Loewenstern
Goethes Leibesfülle.
Hier haben wir den Trojanischen Krieg beieinander, sagte er. – Es ist die Ernte eines Wettbewerbs. Meyer und ich haben junge Künstler eingeladen, die Helden beider Lager nach ihrer Vorstellung auszuführen. Götter waren ihnen nicht erlaubt, aber bei Halbgöttern drückten wir ein Auge zu; denn unter den Gestalten der «Ilias» hätten die Künstler ja keine gefunden, an deren Zustandekommen nicht Gott oder Göttin maßgeblich beteiligt gewesen wären.
Er drückte sich wunderbar kameralistisch aus. Übrigens, sagte er, auch weibliche Sujets haben wir ausgeschlossen; die Buben hätten sich doch nur an der Helena versucht. Wir erwarten keine Genies, und ein solches hätte dazugehört, um sie zu zeichnen, wie sie gewesen sein muß, um zwei Männerheere zehn Jahre lang zu beschäftigen. Zeitvertreib, murrte er und spuckte jetzt doch einmal, und während er den Krümel von der Rüstung eines Achills aufpickte und in den Mund zurücksteckte, dann tun die Buben nichts Dümmeres. – Ich wagte nicht zu fragen, ob sich Frauen wenigstens als Künstlerinnen am Wettbewerb beteiligen durften. Dabei waren seine Produkte, wie mir schien, in solcher Blässe ausgeführt, als getraute sich der Bleistift nicht, einen Mann auch mit mutigem Strich wiederzugeben. Goethe hatte die Blätter nach Helden sortiert, und so sahen wir, in verschiedenen Stellungen, doch immer mit fast körperlosen Linien, eine ganze Reihe von Patroklossen und Äneassen hintereinander; Hektore gab es besonders viele, damals auch mein Favorit, während sich Äneas Goethes Vorliebe erfreute. Ein Familienvater und Biedermann, sagte er, dem man die Mutter Aphrodite nicht ansieht: Aber was tut er: sagt dem Krieg Valet, geht hin und gründet Rom! Unter Knaben ein Mann!
Über die Versuche, einen Helden in Not oder häßlich zu zeigen, Ajax vor dem Sturz in das eigene Schwert, Thersites beim Lästern oder gar den schreienden Philoktet, blätterte Goethe rasch hinweg. Für das Widerwärtige muß einer ein Kerl sein wie Shakespeare, sagte er, das wollen wir von den Buben nicht verlangen, und wenn sie sich’s zutrauen, verspielen sie schon den
Anfang
der Kunst. Das Vorbildliche gibt gerade genug zu tun!
Die Zeit war unbemerkt fortgeschritten; schon zweimal hatte sich Geist gezeigt, um Lichter aufzustecken, und war jedesmal von Goethe mit der Bemerkung –
Des lasse mer noch!
– wieder weggewiesen worden. Wir saßen immer noch nebeneinander auf dem Bänklein vor der Bildermappe, auch wenn ihre Gestalten kaum noch zu erkennen waren. Doch mit welcher Begründung hätte ich, als die Dämmerung unsere Nähe noch vertraulicher machte, auf mein Stühlchen zurückkehren können? Und doch war es höchsteZeit, mich zu empfehlen; bei Goethen zu sein, bleibt ein Augenblick, den man sowenig fixieren darf wie den bunten Staub eines Schmetterlingsflügels. Ich hatte mich schon erhoben, als er mich sanft beim Arm ergriff und auf den Sitz zurückzog.
Wann Se so weit fortwolle
, sagte er leise,
hawwe Se dann nix Liewes?
, und ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: Minchen. – Wo wartet denn Ihr Minchen? fragte er wieder gut deutsch. – In Reval, sagte ich, an der Breitstraße, aber ich sei gar nicht sicher, ob sie warte; sie sei nur vor Jahren meine Jugendliebe gewesen. Wir hätten in ihrem Haus Kinderhochzeit gefeiert, aber dabei hätte ich eigentlich nur meinen Bruder Woldemar vertreten, der die Masern hatte. Danach hatten wir uns kaum noch gesehen, bis wir konfirmiert wurden. Erst beim Ritterfest im Knappenhaus hatte sie mich bei der Damenwahl zum Tanz aufgefordert; ich sei ihr damals den Brautkuß schuldig geblieben. Den holte sie sich jetzt vor allen Leuten selbst ab und mußte sich etwas vorbeugen, denn sie war noch die Größere. Erst in der Kadettenschule, die ich gleich nach dem Fest bezog, sei ich nachgewachsen. Danach hätten wir ein paar steife Briefe gewechselt, mit dem Versprechen, uns nicht aus den Augen zu verlieren, denn auch ich hatte unter Kameraden gern ein Mädchen vorzuweisen, das mir schrieb. Dann aber folgten meine Wanderjahre zur See, wir hatten uns nicht wiedergesehen, aber sie blieb ledig, und daß sie mir immer noch gewogen sei, wisse ich nur von meinem Bruder, dem sie einen Korb gegeben hatte.
Der Geheimrat nickte lange, wie mir schien, traurig; jedenfalls lächelte er nicht. – Ich soll Sie auch noch von Madame Löwenstern grüßen, fuhr ich fort, sie wäre überglücklich, wenn Sie ihr wieder einmal die Ehre
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