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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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gebricht? – Im Gegenteil, sagte ich, es ist, in seinem täglichen Verkehr, ehrfürchtiger als jedes andere, hält auch auf die peinlichste Ordnung, die es mit umständlichen Zeremonien feiert; es braucht nur unseren Glauben nicht dazu.
    Löwenstern! sagte er, Ihr Japan klingt ja fast wie ein gelobtes Land. Sind Sie sicher, daß es existiert? Ich möchte es selbst kennenlernen, wenn ich abkommen könnte, aber es ist zu weit weg, man müßte ein Seemann sein und jung wie Sie.
    Darauf betrachteten wir den Globus, der auf dem Fenstersimsimmer zur Hand war, und Goethe drehte ihn andächtig um seine Achse. Sehen Sie sich diese runde Welt an, sagte er, sie ist unsere einzige. Was für ein
kleiner
Himmelskörper! Wissen Sie, daß er
atmet
? Er braucht Licht und Luft, darum stelle ich ihn ans Fenster. – Sein Finger fuhr durch die sibirische Landmasse, dann ein Stück über Wasser und hielt über Japan inne, ohne es zu berühren. – Was für verschwindende Inseln, sagte er mit leiser Stimme, fahren Sie hin, solange sie noch stehen, fahren Sie, Ermolai! – Das eben, gestand ich, sei mein innigster Wunsch. – Sie sind diesen Inseln ja inzwischen so gut wie benachbart, sagte er, der Riese streckt seinen Zeh längst in jene Gegenden aus. Die Russen haben Kamtschatka erobert, sie verfolgen Zobel und Seehunde über die Beringstraße bis nach Alaska und Neukalifornien, die japanesischen Inseln liegen schon vor Ihrer Tür, wie sollte da kein Hinkommen sein? Auch Russen sind Europäer und allemal besser als Holländer und Bergholländer!
    Ich gestand errötend, daß ich den Plan gehabt hätte, Gullivers Reise zu den Japanesen gleichsam nachzuliefern, in einem längeren Appendix, vorgeblich aus Swifts nachgelassenen Papieren, und daß ich mich dafür seines Pseudonyms hätte bedienen wollen,
Dr. Shit;
ich sei deswegen bereits mit einem Londoner Buchhändler im Gespräch gewesen. – Aber dafür müssen Sie hinreisen! rief Goethe, wenn die japanesische Welt schon per se so verkehrt ist, darf sie nicht auch noch verkehrt beschrieben sein, und eine Satire wäre das Verkehrteste! Sie verlangt, penibel registriert zu werden, und ein praktischer Seemann, der sich deutsch und deutlich ausdrückt, ist dafür der rechte Mann! Was ist Ihnen denn dazwischengekommen? – Mein russischer Dienst, sagte ich, und die Französische Revolution. – Fisimatenten, Ausreden! rief Goethe, einen Dienst kann man quittieren, und was die Revolution betrifft: sie ist ein so ungeheures Ereignis, daß Menschen unserer Art es ignorieren
müssen!
Fahren Sie nach Japan, einen Buchhändler getraue ich mich auch in Weimar aufzutreiben, wenn Sie Ihre Pflicht getan haben und lebend zurückkommen! – Ach, erst müßte ich ja hinkommen, sagte ich, und dafür genügen die besten Beziehungen nicht: dazugehören Schiffe, denn Japan ist eine Insel! – Seefahrt ist nötig, leben nicht, sagte er wie zu sich selbst und schien in tiefes Sinnen zu fallen. Das Ungeheure des Vorsatzes, den er mir mutwillig zugespielt hatte, ging ihm wohl selbst auf, und plötzlich sah er viele Jahre älter aus.
    In diesem Augenblick kam Geist wieder, entfernte, auf Goethes Wink, das Teegeschirr bis auf die Konfektschale, wuchtete das Portefeuille auf den Tisch zurück, und Goethe begann, wie abwesend Blatt um Blatt umzulegen. Darauf waren mit zartem Strich Gestalten der Antike dargestellt, bald in schulmäßigem Faltenwurf, öfter auch nackt, denn es waren sämtlich Männer, wenn auch an ihrem nur hingehauchten Geschlechtsteil kaum als solche zu erkennen. Goethe zog mich neben sich, daß ich die Blätter mit ihm zusammen betrachtete. Diesmal war es ein Sofa, das unter mir zu weichen schien. Eben so hatte ich neben unserem Vater gesessen, vor Bildern der Kinderbibel, die er mir erläuterte, während mich der Hauch von Tabak, der ihn immer begleitete, leibwarm anwehte; so habe ich lesen und schreiben gelernt. Von Tabakduft war bei Goethe freilich keine Spur – Frau von Löwenstern hatte mich gewarnt, Goethe könne ihn nicht leiden, und so hatte ich meinen Pfeifenbeutel wohlweislich zurückgelassen und atmete jetzt nur den unverminderten, ganz leicht säuerlichen Geruch von Goethes Gegenwart. Dabei begann er, mich mit Konfekt zu füttern, und vergaß nicht, jeden zweiten Bissen selbst zu naschen. Er kaute ohne Verlegenheit und redete auch dazu, ohne zu spucken.
    So etwas, dachte ich stumm, geschieht dir
einmal
im Leben und nie wieder. Allerdings wunderte ich mich jetzt nicht mehr ganz über

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