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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Straße; das erste beste Dach, unter dem ich vor einem Platzregen Schutz fand, war das
Angleterre
, und der Nachtportier öffnete mir, als hätte er mich erwartet. Man empfing mich als
enfant prodigue
, ich bekam ein entzückendes Dachstübchen, und natürlich war es das erste, daß ich ein Billett an Nogier aufsetzte:
Cher ami, j’habite l’Angleterre et je manque de tout
.
    Benoît-Marie Nogier ist ein fester kleiner Mann mit einer besorgniserregenden Furche auf dem nackten Schädel. Zur Zeit Ludwigs XVI. war er Bader in der Gascogne und mußte vor seinen Gläubigern nach Paris fliehen, da kam ihm die Revolution eben recht. Er tat sich als wütender Volksfreund hervor, doch als es ihm selbst an den Kragen gehen sollte, verschaffte er sich ein Adelsdiplom und floh nach Rußland. Unter dem Konsulat kam er als gemachter Mann zurück und tat sich als Apotheker auf. Er vertreibt einen indischen Schnupftabak, der die Klientel süchtig macht, so daß sie immer wiederkommt und Schäden im Nasen- und Rachenraum mitbringt, für die er die richtige Tinktur besitzt. Auch vor chirurgischen Eingriffen schreckt er nicht zurück und hat dafür eine Privatklinik aufgemacht. Viele Patienten bringt er dazu, ihm vor dem Eintritt ihr Vermögen zu verschreiben.
    Ich lernte ihn beim Roulette kennen; er finanzierte mir dasGlück, das bekanntlich Anfänger verfolgt. Doch als es mich verließ, festigte sich unsere Beziehung erst recht; sie wurde unauflöslich, als ich tief genug in der Kreide stand. Die Spielschulden machten mich zum Ehrenmann, den man pflegen muß, damit er nicht plötzlich das Weite sucht. Nogier hütet sich, mich meine Abhängigkeit fühlen zu lassen, denn von einem Gefangenen hatte er keine Rückerstattung zu erwarten. Da ihm mein Leben teuer ist, sähe er ungern, wenn ich es in einem Ehrenhandel verlöre. Doch beflügelt dieser auch seine Abenteuerlust, und so hin- und hergerissen führt er meine Sache als Sekundant.
    Meinem Notruf aus dem
Angleterre
ist er schon am nächsten Morgen mit einem Packen Uniformteile gefolgt, aus der Sammlung, die er sich im Dienste des Zarewitsch zugelegt hat. Jetzt spannen sich an meinem Leib alle Farben Europas. An Taschengeld aber streckt er mir nur das Nötigste vor und verurteilt mich zu Hausarrest – im
Angleterre
. – Der wahre Dandy!
    Eben ist er vom
Alsace
zurückgekehrt. Der Sekundant der Gegenseite ist ein Factor der Pelzcompagnie namens Schemelin, der dem Grafen die Stiefel lecken darf. «Klein und kahl», beschreibt ihn Nogier; die Ähnlichkeit mit sich selbst ist ihm nicht aufgefallen. Das Schießzeug hat Schemelin mitgebracht: ein Paar identische Terzerole mit Elfenbeingriff, von denen ich vor dem Duell eines auf gut Glück aus dem Zylinder ziehen darf. Ich soll auch den ersten Schuß haben. Ort: eine Lichtung im
Bois de Boulogne
, Zeit: am Mittwoch nach Sonnenaufgang, sofern ich bis dahin wiederhergestellt sei; Schemelin habe sich zartfühlend nach meinem Gesicht erkundigt. Nogier verlangte die Anwesenheit eines Arztes; die Gegenseite erklärte ihr Einverständnis, hinreichend überzeugt, daß er doch nur einen Totenschein auszufüllen habe.
    Ich möchte noch einmal reiten, sagte ich, im
Bois de Boulogne reiten
.
    Aber Nogier bewilligte nur eine
promenade solitaire
zum Schauplatz meines bevorstehenden Todes. Ich legte mich probeweise ins Moos; die Wolken trieben schnell durch geschüttelte Wipfel,und als die Sonne aufging, blinzelte mir das Laub mit zahllosen Augen zu. Und plötzlich packte mich ein wildes Heimweh nach der See.
    PS: Nicht versäumen will ich den Dank für Ihre Mitteilung, daß die japanesische Schule in Irkutsk wieder geöffnet hat. Vielleicht findet sich auch eine Stelle für Koichi. Wie gern wäre ich noch sein Schüler geworden!
    3 Sie fragen, Exzellenz, wo mein Interesse an den Japanesen herkommt; das hat mich schon Goethe gefragt. Eigentlich ist er verantwortlich dafür.
    Die Löwensterns sind im Baltikum eine verbreitete Sippe; mein mäßig begüterter Zweig hat auch eine reiche, für einen glücklichen Erbfall leider zu entfernte Verwandtschaft, deren Güter im kurländischen Süden liegen. Ein Löwenstern mit Vornamen Paul Ludwig Johann (von Löwenhof, Brinkenhof und Sontach sowie auf Groß-Köppo und Alt-Laitzen) ist 1799 nach Weimar umgesiedelt, um seinen jungen Söhnen dort eine standesgemäße Ausbildung zu verschaffen, im Institut Mouniers, des einstigen Präsidenten der französischen Nationalversammlung, den Herzog Carl August in sein

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