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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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kommen.
Mücken!
Wolken des stechenden Ungeziefers verdunkeln das spärliche Licht. Es fällt über alles her, was noch einen Tropfen Blut zu verlieren hat. Man kann sich nur noch ins eisige Wasser retten. Das brüllende Vieh steht ungefressen in der Dwina, verhungert lieber oder ersäuft, als bei lebendem Leib von Mücken gefressen zu werden. Immer wieder kommt es vor, daß sich eine Kuh, zum Wahnsinn getrieben, den Schädel einrennt.
    Und was haben wir hier in Archangel eigentlich zu tun?
    Wir bemannen eine schwimmende Batterie, welche die Mündung der Dwina gegen einen drohenden Feind verteidigt. Insoweit sie gerade noch schwimmt, ist die Marine zuständig – es hängt auch noch eine
Bonn
daran, eine Kettensperre von Ufer zu Ufer. Insoweit es sich aber um eine
Batterie
handelt, werden naturgemäß Artilleristen benötigt. Mit der Folge, daß sich auf knappem Raum zwei verschiedene Gattungen der militärischen Spezies auf die Füße treten – aber ihre Chefs finden mehr als ausreichend Raumfür jede Art von Kompetenzgerangel, Brotneid und Intrige. Es müßte wahrhaftig ein Feind kommen, damit wir einmal, statt uns gegenseitig zu beißen, vereint schlügen, und nur Gott weiß, ob wir dazu überhaupt imstande wären. Da muß man es ein Glück nennen, daß wir die Anlage bald wieder einwintern dürfen; dann übernimmt das Eis wieder ebenso zuverlässig die Belagerung, wie es uns der Verteidigung enthebt. Für unseren immerwährenden Krieg bleiben uns jetzt nur noch unsere Unterkünfte, Büros und Stammtische. Die neue Offiziersmesse ist gerade abgerissen worden, da ihre Wände bereits anfingen zu faulen.
    Wenn der Mann nicht mehr weiß, ob ihm zu heiß ist oder zu kalt, spürt er jedenfalls: es will Frühling werden oder Herbst, Zeit, unsere schwimmende Festung aus dem Dreck wieder ins Wasser zu schleifen, oder umgekehrt; die Dwina mit Balken zu sperren, die
Bonn
auszulegen, mit größter Mühe, oder sie mit größerer Mühe wieder einzuziehen, bevor das Eis die brüchige Kette zerfrißt. Unsere Sisyphusarbeit wird zwar keinen Feind abhalten, doch uns die eigenen Ketten vergessen lassen; nur wer sich schinden muß, wird taub dafür, daß er geschunden wird. Erst sein Opfer macht einen Mann zum Soldaten, oder umgekehrt, und sein Offizier muß es unerbittlich zu fordern wissen, sonst schafft er sich keinen Respekt.
    Also hetze ich die Männer, um sie warm zu halten, auf dem Exerzierplatz herum und wärme mich selbst mit meinem Gebrüll. Abends muß es der Fusel tun; er ist das einzige, von dem meine Leute Überfluß haben, doch außer Tanzen und Singen verlernen sie auch das Beten nicht. Dafür muß ich Gott meinerseits dankbar sein, denn allzuoft überlasse ich sie seinem Schutz allein, bleibe in meinem Quartier und sehe den Kakerlaken an der Decke beim Wandern zu.
    Denn ich habe ein Geheimnis zu hüten.
    Ich sieche, Exzellenz. Ein
Wolf
, den ich in der Kadettenanstalt eingefangen habe, eine banale Entzündung der inneren Oberschenkel, die mir seither anhängt, hat sich sprunghaft zu einer leibdeckenden Flechte entwickelt. Reinlichkeit, die jetzt das Nötigstewäre, ist in Archangel naturgemäß nicht zu haben, und die
hüllischen Schwefelbäder
(ich zitiere mein Journal, ich korrigiere kein Wort), die ich in der Vorstadt gebrauche, schaffen nur vorübergehend Linderung. Ich müßte Tag und Nacht in der stinkenden Brühe hocken, und dafür ist der Bademeister, der sie ebenso dauerhaft heizen müßte, nicht zu haben – ich muß wohl die richtige Hölle abwarten. Aber ich trage sie ja schon mit mir herum. Die Salbe, mit der ich mich zuschmiere, riecht pestilenzialisch, und ihre Nebenwirkung – eine hitzige Röte – übersteigt ihre Wirkung so kraß (und auch noch so sichtbar), daß das Absetzen dieses Medikaments schon fast eine Wohltat bedeutet. Die Milben aber lachen sich ins Fäustchen; sie haben ihre Ruhe und sorgen dafür, daß es um die meine bald wieder geschehen ist. Die Wärme, die ihr Wirt suchen muß, scheint auch ihnen bestens zu bekommen. Ich müßte mich in Eis legen, um ihnen den Appetit zu verderben, aber diese Kur würde mich eher töten als sie.
    Ich bin räudig geworden, und da ich mir keinen Zustand vorstellen kann, der besser zu Archangel paßte, wird ihm hier auch nicht abzuhelfen sein. Und was das Beste ist: die Krätze spart, wie zum Hohn, meine Visage aus. Ich müßte mich nackt machen, um einem Menschen mein Elend zu offenbaren – und würde ihn doch um nichts anderes bitten, als daß er

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