Loewenstern
britischen Wintern zum Verwechseln. Auch Captain Ogilvy, mein Vorgesetzter, ist ein waschechter Engländer, und wir versuchten auf Solombol, unserer Insel im Delta, gar einen Club einzurichten, aber unsere Offiziere zeigten dann doch keine Lust, auch noch im Freigang baden zu gehen. Denn wir sind häufig überschwemmt; im Mai, beim Eisgang, ist es am schlimmsten, aber im September kann es noch schlimmer kommen, wenn der Strom eine ganze Regenperiode abführen muß, bevor er wieder in Frost erstarrt. Damit beginnt er allerdings schon im Oktober und bleibt sieben Monate dabei. Die Landschaft wird zum Leichentuch mit schwarzen Flecken im stumpfen Weiß.
Begehbar ist nur noch der Himmel, wenigstens für die Augen. Im Winter, wenn es nie mehr Tag werden will, kann die Klarheit der Nacht ohne Beispiel sein, die Sternbilder strahlen wie vereistes Feuerwerk, und das Tagesgestirn taucht nur ganz flüchtig auf, um die Welt durch einen Anschein von Licht zu blenden. Auch Archangel hat weiße Nächte. Die Tage dazu sind zauberhaft, wenn die Sonne auf flacher Bahn eine dünne, doch durchdringende Klarheit verbreitet. Dann sind lange Schlagschatten schärfer gezeichnetals die Gegenstände, von denen sie fallen: ein magerer Baum, eine dürftige Hütte, ein einzelner Mensch. Und alle Dichte der Welt zieht sich im Blau der Dwina zusammen, das kaum noch eine Farbe zu nennen ist. Ich bin ihr zum letzten Mal im Ägäischen Meer begegnet, wo der Schatten der Inseln darauf liegt. Ich starre in die fließende Tiefe meiner Sehnsucht und werde doppelt elend, wenn ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, wonach. Manchmal sehne ich mich nach der hohen See, aber nur, um darin unterzugehen, geräuschlos und unbemerkt. Das «unendlich prächtige Grab», das mein preußischer Herr von K. gesucht hat, wäre mir schon zu laut.
Wußten Sie aber, Exzellenz, daß die Luft in Archangel so kalt werden kann, daß Spatzen und Krähen gefroren vom Himmel fallen, weil auch der heftigste Flügelschlag ihren Körper nicht mehr erwärmt? Wer schon am Boden ist, muß sich mit Schlottern helfen und Zähneklappern. Es ist die einzige Tätigkeit, der meine Leute zuverlässig obliegen. Dafür drängen sie sich wie Pinguine in der zugigen Kasematte zusammen und halten sich mit Wodka warm: da erfriert, wer nicht singen und tanzen kann. Immerhin hat man in Solombol auch die Wahl, zu verstinken. Sind nämlich alle Ritzen so weit gestopft, daß die Ofenhitze nicht in alle Winde verzieht, wird die Luft zum Schneiden dick. Den Sauerstoff ersetzen die Menschenkörper durch eine Ausdünstung, die nach Salpeter riecht. Oft finde ich meine Leute am Morgen so betäubt, daß sie erst vor der Tür wieder zu Sinnen kommen. Man muß froh sein, wenn sie nicht am Erbrochenen erstickt sind; mindestens hätten sie der Krone damit ein Frühstück erspart. Man muß die Räume höllisch überheizen, um sie schwach zu erwärmen; dann aber fließt das Tauwasser von allen Wänden, sammelt sich in Pfützen und sorgt dafür, daß auch die Wäsche feucht bleibt. Meine Leute kommen aus dem Schnupfen und Husten nicht heraus, aber vor nichts hüten sie sich so sehr wie vor der Krankenstation. Denn das sanitarische Personal nimmt keinen auf, der es zuvor nicht zum Erben seines Geldes eingesetzt hätte. Ein paar Rubel bleiben ja auch dem Ärmsten, weil er sich in Archangel davon nichts kaufen kann. Aber auch das Krankenhaushält sich nur über Wasser, wenn ihm die Patienten zügig wegsterben. Der Pope lebt davon, daß er ihren Letzten Willen aufsetzt; auch vom Sterbegeld fällt noch etwas für ihn ab. Da kommt es für den gemeinen Mann günstiger, im Mannschaftsquartier abzutreten.
Wenn gegen das Elend kein Kraut gewachsen ist, kämpfe ich doch gegen seinen Mißbrauch. Ich habe das Fasten während der Sommerwochen abgestellt, mit dem die armen Teufel wenigstens ihre Seelen zu retten hoffen. Auch erlaube ich ihnen, bevor sie ganz vom Fleisch fallen, auch einmal, ein Schaf schwarz zu schlachten, oder auch zwei. Meine Einheit bekommt Butter, ich dafür Ärger mit dem Quartiermeister; denn auch er muß von den paar Kopeken leben, die er den Hungerleidern jeden Tag abknappt. Was der Krone beim Auspressen ihres Kanonenfutters abgeht, habe ich mehr als einmal aus eigener Tasche zugeschossen. Mit meinem Stübchen über der Bäckerei lebe ich ja immer noch in Saus und Braus.
Soviel zu den Plagen des Winters – doch fast mit Wehmut erinnert man sich an sie, wenn die Plagen des Sommers
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