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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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mich kratzt und wieder kratzt. Natürlich ist dieser brennende Wunsch auch der am meisten verbotene – schlimm genug, daß er mein einziger ist. Der lächerlichste Reiz ist zum abscheulichsten Allgemeinzustand geworden, und schamlos, wie er ist, führt er auch das Verschämte seiner pubertären Herkunft mit. Wer erbarmt sich einer Not, die man nicht vorzeigen darf?
    Wer aus seiner Haut fahren könnte!
    4 Ich nahm zwei Wochen Urlaub und reiste nach Reval – nicht zu den Meinen, sondern zu Doktor Espenberg, dem vertrauten Gesicht aus den Tagen der
Nadeschda
. Mag er Hornern den falschen Zahn gezogen haben – an mir hat er Wunder gewirkt. Zurück in Archangel, bin ich wieder fähig, mich für Rußland auch fürder zu ruinieren und mich mit frischer Kraft krankzuärgern. Wahrhaftig, der tägliche Raub, den die Krone an ihren Seelen begeht, kennt keine Scham. Wie sollten ihre Diener solche aufbringen? Die untergeordnete Kreatur hätte sonst nichts zu beißen und könnte keine Kinder ernähren. Da wird jede Gaunerei, mag sie auch zum Himmel stinken, zum Mundraub der Armen an den Ärmsten und entzieht sich dem moralischen Urteil.
    Dabei ist die Politik nicht müßig; es sieht ganz so aus, als gelinge es der russischen Diplomatie sogar, einen Krieg mit England vom Zaun zu reißen. Möge uns ein grimmiger Winter bewahren! Leutnant Löwenstern liegt nicht das Geringste am Beweis, daß seine Festung sonst nicht zu halten wäre. Weit schrecklicher noch ist aber die Vorstellung, daß uns Ogilvy abhanden käme. Der tüchtigste Offizier des Stützpunkts würde als Angehöriger einer Feindmacht nach Sibirien geschickt – und was würde dann aus unserem
five-o’clock tea
, der einzigen Unterhaltung, die in Solombol diesen Namen verdient? Es darf nicht zum Krieg mit England kommen, Exzellenz. Wir könnten ihn nicht gewinnen – und glauben Sie, Napoleon wäre der Mann, dem Zaren diesen Dienst zu danken?
    Kaum kratzt mich die Haut nicht mehr, juckt es mich schon wieder, mit Rat zu dienen – Sie sehen, ich bin schon fast wieder der alte. Doktor Espenberg in Ehren, er mag mich kuriert haben –
elektrisiert
aber hat mich eine Nachricht, auf die ich in seinem Haus gestoßen bin. Aber gemach der Reihe nach.
    Chwostow und Dawydow sind tot – das wußte Espenberg aus erster Quelle. Dem Kerker in Irkutsk entronnen, offenbar durch Bestechung, sollen sie sich zu Fuß nach Petersburg durchgeschlagen haben. Der zarte Dawydow bekam Gelegenheit, jene Strapaze zu wiederholen, die er einst in Portsmouth glorreich angekündigt und inzwischen auch literarisch belegt hat. Nur war die Richtungdiesmal die umgekehrte; die Helden waren keine Argonauten mehr. Sie kehrten zurück, um der Anklage zu begegnen, sie hätten in japanesischen Fischerdörfern, wo es gewiß kein Goldenes Vlies zu rauben gab, ihr eigenes Schäfchen ins trockene gebracht. Resanow, inzwischen vor einem höheren Richter, stand als Zeuge nicht mehr zur Verfügung. Nun konnten sie ihm tun, wie er ihnen: die Verantwortung abwälzen. Doch hielt die Obrigkeit nicht für opportun, ihren Fall in einem Prozeß breitzutreten. Sie erhielten Gelegenheit zur Bewährung im Finnischen Krieg – und versäumten nicht, sie mannhaft wahrzunehmen. In Feindesblut gebadet, kehrten sie nach Petersburg zurück.
    Um so mysteriöser ihr plötzliches Ende. Sie hatten sich im Haus bei Doktor Tilesius, dem Naturforscher auf der
Nadeschda
, mit einem amerikanischen Bekannten getroffen und tapfer gebechert. Beim Heimweg über die Newa fanden sie die Brücken schon hochgezogen. Da entschlossen sie sich, Arm in Arm, zu einem Sprung – auf ein durchfahrendes Schiff, das sie verfehlt haben? Oder haben sie sich in ihrem Rausch zu einem starken Abgang verbündet?
    Es
gab
ein Schiff, und Espenberg will wissen, es sei unter amerikanischer Flagge gesegelt. Er schließt nicht aus, daß es das Paar zu neuen Höhen der Menschheit getragen hat. Wie, wenn sie heute unter dem Sternenbanner dienten? Wenn Chwostows
Nom de guerre
jetzt Bolīvar wäre, wenn er zum Befreier Südamerikas würde? Espenberg war immer schon anfällig für Heldenverehrung.
    Nein, diese Nachricht warf mich noch nicht um. Aber eine ganz andere – auch wenn sich Espenberg nicht für sie verbürgen wollte –
erschreckte mich zum Leben
.
    Chwostow hat die Japanesen aufgestört wie Hornissen, begann mein Arzt, so bald darf kein russisches Schiff mehr in ihre Nähe kommen. Golownin wird sich vorsehen müssen.
    Warum Golownin? fragte ich. – Und was

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