Loewinnenherz
halbe Stunde später bin ich in der Prüfung. Jetzt gibt es nur noch die Fragen für mich, die auf dem Papier vor mir stehen, und die Antworten, die ich niederschreibe. Nach einer Stunde weiß ich, ich werde diese Prüfung bestehen, wie schon so viele andere zuvor. Ich habe vor langer Zeit gelernt, alles andere aus meinem Denken und Fühlen auszuklammern, wenn es um meine Ausbildung und Karriere geht. Den Terror meines ersten Ehemanns, der nicht erfahren durfte, dass ich lernte. Die Schmerzen der Prellungen und Blutergüsse, die er mir vorzugsweise am Kopf zufügte, unter den Haaren, damit andere nicht sehen konnten, wie sehr er mich misshandelte. War er endlich eingeschlafen, stand ich leise auf, holte meine Bücher aus dem Versteck, setzte mich hin und lernte. Jahrelang lernte ich zwischen zwölf und drei Uhr nachts, während ich tagsüber zur Schule ging, den Haushalt verrichtete und meine Tochter versorgte. Lernen war für mich Luxus, und ich stahl mir die Zeit dafür, auch wenn sie eigentlich gar nicht da war. Und deshalb kann ich mich jetzt ausschließlich auf die Prüfung konzentrieren, auch wenn meine Mutter im fernen Anatolien einen Herzinfarkt erlitten hat, und niemand weiß, ob sie den nächsten Tag erleben wird.
Ich gebe die Prüfungsunterlagen ab und gehe hinaus. Wie sich die Dinge doch ändern können! So viele Jahre lang hatte |10| meine Mutter mir täglich zu verstehen gegeben, wie wenig ich ihrer Meinung nach wert war. Und jetzt auf einmal braucht sie ausgerechnet mich.
|11| 1 Ein Gefängnis namens Familie
Was mir an die Nieren ging
I ch war von Anfang an ein schwerkrankes Kind, und vielleicht liegt es daran, dass ich nie ein echtes Verhältnis zu meiner Mutter aufbauen konnte. Kaum war ich auf der Welt, fing der ganze Jammer an. Ständig lief ich blau an und hatte hohes Fieber. Mit acht Monaten wurde es so schlimm, dass meine Eltern mich ins Krankenhaus brachten. Was ein kurzer Aufenthalt hätte sein sollen, dauerte Jahre: Meine ersten vier Lebensjahre verbrachte ich fast ausschließlich in der Klinik.
Die Ärzte fanden heraus, dass ich Probleme mit den Nieren hatte, und so war ich noch keine neun Monate alt, als eine große Operation notwendig wurde. Meine Mutter holte mich am Tag |12| vor der Operation aus dem Krankenhaus und brachte mich zu einem Fotografen, denn die Ärzte sagten, dass der Eingriff mit großen Risiken verbunden sei, und meine Mutter befürchtete, ich würde das Ganze nicht überleben. Sollte das Schlimmste eintreten, sollte die Familie wenigstens ein Foto als Erinnerung an ihre Tochter namens Şengül, was auf Deutsch „Fröhliche Rose“ bedeutet, bewahren.
Das Erinnerungsfoto vor der großen OP
Doch ich überlebte diese Operation an meiner kleinen Blase, bei der man mir den Bauch von einer Seite bis zur anderen aufschnitt. Auch wenn ich extrem geschwächt und monatelang an Schläuche angeschlossen war, mich nicht aus dem Bett bewegen konnte und natürlich nicht nach Hause durfte, auch wenn mein Urinzyklus einfach nicht funktionieren wollte, ich hielt durch. Kurz vor meinem zweiten Geburtstag wurde ich erneut operiert, ein äußerst komplizierter und langwieriger Eingriff, und wieder wurde kurz davor ein Foto von mir gemacht. Doch auch dieses Mal wachte ich wieder aus der Narkose auf. Die Ärzte blieben ratlos, denn noch immer wurde ich nicht gesund. Aber Şengül, die „Fröhliche Rose“, war zäh.
Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, durfte ich für ein Wochenende nach Hause, denn Bekannte waren zu Besuch gekommen, und wollten mich gerne sehen. Kaum war ich in der Wohnung meiner Eltern, riss ich eine Tischdecke herunter und mit ihr eine Kanne kochend heißes Wasser, das sich über mich ergoss. Ich erlitt so schwere Verbrennungen, dass ich fürchterlich schreiend mit Blaulicht zurück ins Krankenhaus transportiert werden musste, diesmal auf die Intensivstation. Sechs Monate war ich von der Außenwelt abgeschottet. War mein Nierenleiden schon extrem schmerzhaft, so litt ich nun außerdem unter den Verbrennungen.
Als ich zur Welt kam, lebten meine Eltern mit meinem großen Bruder in Schnaittach, einem kleinen Ort dreißig Kilometer von Nürnberg entfernt. Als sich herausstellte, dass mein Krankenhausaufenthalt von längerer Dauer sein würde, zogen sie in die Stadt, um in meiner Nähe zu sein. Meine eigentliche Familie |13| aber war die Gemeinschaft der Ärzte und Krankenschwestern. Besonders eine Frau kümmerte sich liebevoll um mich: Schwester Marlies, die
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