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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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es ihr von oben bis unten. Aber sie hörte mir überhaupt nicht zu.
    „Du bist ein Mädchen“, sagte sie. „Schule ist für dich wirklich nicht wichtig.“
    Das konnte ich nicht verstehen. In der Schule wurde kein Unterschied gemacht zwischen Mädchen und Jungen. Warum sollte das Lernen für mich nicht wichtig sein? Aber auch mein Vater zeigte kaum Interesse an meinen schulischen Erfolgen. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, von irgendeinem fernen Stern zu stammen und durch ein fatales Unglück in der falschen Familie gelandet zu sein.
    Alles voller Blut
    Als ich in der zweiten Klasse war, stellte mich meine Mutter eines Tages auf einen Hocker, denn ich war noch zu klein, um das Spülbecken erreichen zu können. „Du willst lernen?“, fragte sie mich. „Dann lernst du jetzt, wie man Geschirr abwäscht.“
    Ich tat mein Bestes, doch das war nicht gut genug. Ständig schrie meine Mutter mich an, sie sehe noch Seife auf den Tellern, ich solle sie ordentlich abwaschen. So machte Lernen keinen Spaß. Ich wusste zum Glück noch nicht, dass dies der Anfang der „Ausbildung“ war, die meine Mutter mir angedeihen ließ, und die für sie die einzig richtige war, viel wichtiger als Schreiben und Lesen, Rechnen und alles andere: Sie wollte, dass ich eine anständige türkische Hausfrau werde.
    Denn der Haushalt war ihr eigener Lebensinhalt: Kochen, Waschen, Bügeln, Putzen. Sie war immer schon ungeheuer dick, so als trüge sie Drillinge in sich, und hatte keinen großen Ehrgeiz, die Sprache ihres Gastlandes richtig zu lernen. Sicherlich, mit den Jahren konnte sie sich mit den Nachbarn über einfache Dinge austauschen, doch wenn es komplizierter wurde, dann musste ich übersetzen.
    |19| Ich sah sie an und mir war klar, dass ich etwas anderes wollte. Ich war wissbegierig und alles flog mir nur so zu. Sogar Klavier lernte ich spielen, zu Hause hatten wir zwei Keyboards, und da übte ich, manchmal auch gemeinsam mit meinem Bruder, der aus Freude an der Sache einfach mitklimperte. Meine Lehrer hielten mich für musikalisch, und einmal hatte ich sogar einen Auftritt in der Meistersingerhalle. Doch niemals waren meine Eltern auf meine Leistungen stolz, im Gegenteil. Es schien ihnen nicht zu passen, wenn ich gute Noten nach Hause brachte. Für meine Mutter waren gute Noten nur ein weiterer Grund, mich für die Hausarbeit noch strenger ranzunehmen. Lernen war vertane Zeit für sie, und was sie überhaupt nicht verstehen konnte, war meine Leidenschaft für Bücher.
    Damals kam ein Mal in der Woche ein Bücherbus in unsere Schule. Jedes Mal lieh ich so viele Bücher aus, wie ich durfte, und eine Woche später hatte ich sie bereits alle wieder ausgelesen.
    „Was findest du nur am Lesen?“, jammerte meine Mutter und trug mir eine weitere Hausarbeit auf, damit ich etwas Nützliches tat. Wirklich in Ruhe lesen konnte ich nur in der Schule während der Pausen und abends im Bett. In den Büchern entdeckte ich eine ganz andere Welt als die, in der ich mit meiner Familie lebte. Ich konnte lange nicht verstehen, warum meine Eltern so anders waren als die Menschen in den Büchern, warum sie sich nicht für diese wunderbaren Geschichten interessierten, warum sie nicht die Sprache sprechen wollten, die man um sie herum sprach, warum sie nicht lesen und an dem Leben in Deutschland teilhaben wollten. In unserem Haushalt gab es kein einziges Buch, und meine Mutter tat, als sei so ein Gegenstand etwas ungeheuer Gefährliches.
    Meine Eltern stammen aus Ankara, und kamen mit der ersten türkischen Einwanderungswelle nach Deutschland. Sie waren nicht besonders religiös, und meine Mutter trug auch kein Kopftuch. Ja, es gab sogar eine Zeit, in der meine Mutter Miniröcke trug und schicke Frisuren, sich schminkte und sich ganz |20| und gar nicht wie eine traditionelle türkische Frau kleidete. Erst als ich fünfzehn oder sechzehn war, hatte mein Vater eines Nachts einen Traum, in dem ihm angeblich der Prophet erschien und ihn ermahnte, ein gottgefälligeres Leben zu führen. Tatsächlich änderte er damals sein Leben, jedoch hatte das keine Auswirkungen auf den Rest der Familie.
    „Der Glaube ist eine sehr private Sache“, pflegte er zu sagen, „das muss jeder mit sich selbst ausmachen, da darf ihm keiner hineinreden.“ Und es lag ihm fern, seiner Frau und seiner Tochter zu befehlen, ein Kopftuch zu tragen.
    Wie in vielen Familien war auch bei uns das große Ziel, so viel Geld wie möglich zu verdienen und beiseitezulegen, um später in der

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