Loewinnenherz
Leben. Bei uns gab es kein Bücherregal, keine Gutenachtgeschichte und keine Umarmung.
Meine Mutter hatte mit kleinen Kindern keine Geduld. Sie schlug uns oft, wann immer sie der Meinung war, dass wir irgendetwas falsch gemacht hätten. Bei mir war das leider sehr oft der Fall. Sie prügelte mich mit allem, was ihr gerade in die Hände kam, besonders gern mit den Absätzen ihrer hochhackigen Schuhe. Schon damals lernte ich, meine Blutergüsse zu verstecken, damit mir die Nachbarskinder keine Fragen dazu stellten. Ich genoss die Zeit in den fremden Kinderzimmern so sehr, da wollte ich nicht erklären müssen, was zu Hause geschah.
Und dann geschah etwas Großartiges: Ich wurde eingeschult. Jeden neuen Tag begrüßte ich wie ein Wunder, denn ich wusste, heute darf ich wieder etwas lernen. Wie gerne ging ich morgens |16| los, saß mit den anderen Kindern in den Bänken und sog alles in mich auf wie ein Schwamm. Im Nu lernte ich Lesen, ratterte das Alphabet nur so herunter, saß in der ersten Reihe und hatte den Finger immerzu oben. Ich war ein lebhaftes Kind, der Lehrer sagte oft: „Şengül, ich muss auch mal andere Kinder dran nehmen“, und ich konnte mich kaum beherrschen, um nicht vor lauter Begeisterung die Antworten auf seine Fragen laut hinauszuplappern. Ich fand alles wunderbar: den Schulweg, meine Schultasche, mein Federmäppchen, meine Bücher.
Eines Tages nahm mich meine Mutter mit in die Stadt zum Einkaufen und ich sah in einem Geschäft ein wunderschönes Kleid. Es war weiß und hatte bunte Streifen: rot, grün, gelb und blau – ich sehe es noch heute vor mir. Ich bat meine Mutter, mir dieses Kleid zu kaufen, doch natürlich sagte sie Nein.
Ein paar Tage später ging es mir nicht gut. Schmerzen im Unterleib hatte ich eigentlich immer, aber an diesem Tag war es besonders schlimm. Ich wollte unbedingt trotzdem zur Schule gehen, ich gehörte nicht zu den Kindern, die gerne mal zu Hause blieben, krank zu sein war für mich die schrecklichste Strafe.
Ich weiß noch genau, wie ich in meiner Bank in der ersten Reihe sitze und dem Lehrer gespannt zuhöre, der mit seinem Zeigestock auf die Tafel weist. Auf einmal wird mir so schlecht, dass ich denke, ich muss mich gleich übergeben. Ich versuche mich an der Tischkante festzuhalten, denn ich habe ein Gefühl, als stürzte ich aus dem zehnten Stock in die Tiefe. Um mich herum wird alles dunkel.
Was danach geschieht, erfahre ich erst später: wieder einmal werde ich mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert und dort sofort notoperiert. Und wieder fürchten alle um mein Leben.
Als ich auf der Station die Augen aufschlage, ist das Erste, was ich sehe, das weiße Kleid mit den bunten Streifen, das ich mir so gewünscht habe. Direkt vor meiner Nase baumelt es an dem Haltegriff, an dem man sich aus dem Bett hochziehen kann. Da ich wieder einmal an zig Schläuche angeschlossen bin, kann ich das Kleid nicht einmal anfassen. Nach und nach |17| dringen die Schmerzen in mein Bewusstsein, und sie sind fürchterlich. Ich weine, flehe meine Mutter an, sie möge mir doch helfen. Doch natürlich kann sie nichts für mich tun. Ich kann einfach nicht mehr. Sterben zu können erscheint mir in diesen Stunden nach der Narkose als das Beste, was mir passieren könnte.
Irgendwann liege ich still in meinem Bett. Ich lasse die Augen nicht von dem hübschen Kleid, und höre, wie sich meine Mutter mit der Mutter des Mädchens unterhält, das mit mir das Zimmer teilt.
„Mein armes Kind wird sicherlich sterben“, jammert die andere türkische Frau. „Der Arzt sagt, sie hat Nierenversagen.“
„Şengül“, antwortet meine Mutter, „wird das hier auch nicht überleben. Seit sie auf der Welt ist, macht sie uns nichts als Kummer. Sie war mehr im Krankenhaus als zu Hause. Lange macht sie das bestimmt nicht mehr mit.“
Aber ich sterbe nicht. Nicht dieses Mal und nicht die folgenden Male. Auch wenn ich wieder ein halbes Jahr im Krankenhaus bleiben muss, weil es nach der Operation Komplikationen gibt und ich hohes Fieber bekomme, irgendwann erhole ich mich und gehe wieder zur Schule. Und obwohl ich mehr als die Hälfte der ersten Klasse versäumt habe, erhalte ich am Jahresende eines der besten Zeugnisse.
Was war ich stolz! Ich rannte zu meiner Mutter, um es ihr sofort zu zeigen. Doch sie schenkte dem Zeugnis nicht einmal einen Blick.
Im Juni 1980 nach der Notoperation
|18| „Natürlich“, dachte ich, sie spricht ja auch kaum deutsch. Also setzte ich mich hin und übersetzte
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