Loewinnenherz
ist, weiß ich bis heute nicht – mit einer Ausnahme. Bei einer Lesung in Nürnberg traf ich vor Kurzem eine Frau und wusste sofort, dass sie eine alte Schulfreundin aus der Grundschule war.
„Bist du nicht die Zehra?“, fragte ich sie. Sie bejahte meine Frage ein wenig verlegen und erzählte mir, dass sie Volkswirtschaftslehre |25| studiert habe. Sie ist mir deshalb so deutlich in Erinnerung geblieben, weil sie in der Grundschule Ärztin werden wollte und ihre Familie so anders gewesen war als meine, viel moderner und weltoffener. Ihre Eltern hatten nichts dagegen gehabt, als ihre Tochter studieren wollte. Bei mir war das etwas ganz anderes.
Aus der Hauptschule wollte ich so schnell wie möglich weg. Der Unterricht langweilte mich zu Tode, und ohne große Mühe bekam ich am Ende der 5. Klasse das beste Zeugnis von allen. Mein türkischer Klassenlehrer, an dessen Namen ich mich bis heute erinnere, Salih Torbali, war ein toller Pädagoge. Eines Tages sprach er mich an: „Şengül“, wollte er wissen, „was machst du eigentlich hier auf der Hauptschule?“
Ich erzählte ihm, dass meine Eltern es so wollten, und dass ich mit meinen Versuchen, sie davon zu überzeugen, mich auf das Gymnasium zu schicken, bisher gescheitert war. Er sah mich an und sagte: „Ich werde deinen Vater zu einem Gespräch einladen. Es kann ja wohl nicht sein, dass eine so tolle Schülerin wie du hier ihre Zeit vergeudet!“ Meine Augen wurden vor lauter Freude ganz groß. Ich hatte wieder etwas, worauf ich hoffen konnte. Ich wollte mir natürlich nichts entgehen lassen und war beim folgenden Elterngespräch mit dabei.
„Şengül ist eine hervorragende Schülerin“, sagte der Lehrer zu meinem Vater, „sie hat ein Hirn wie ein Magnet, alles Wissen zieht sie nur so an. Sie sollte aufs Gymnasium. Wenn Sie möchten, dann helfen wir Ihnen gerne, die Formalitäten zu erledigen, damit das Mädchen überwechseln kann.“
Was war ich stolz! Meine Ohren wurden ganz rot, so viel Lob zu hören. Und ich wollte nichts lieber, als aufs Gymnasium zu wechseln, denn in der Hauptschule war es mir einfach zu langweilig. Mein Vater allerdings schien alles andere als begeistert. „Das ist nicht nötig“, sagte er. „Şengül braucht nicht aufs Gymnasium zu gehen.“ „Aber warum denn nicht?“, wollte mein Lehrer wissen. „Sie ist ein Mädchen. Sie braucht das nicht. Sie wird heiraten, und dann ist diese ganze Schulausbildung sowieso für die Katz.“
|26| Salih Torbali sah das ganz anders und versuchte, meinen Vater davon zu überzeugen, was für eine gute Sache es wäre, wenn auch ein türkisches Mädchen wie ich eine gute Schulausbildung erhalten würde. Mein Vater blieb während des ganzen Gesprächs sehr höflich, aber ich merkte ihm an, dass er im Stillen die Geduld verlor und mit so einem „Schwachsinn“ seine Zeit nicht verplempern wollte. Er wollte so schnell wie möglich wieder gehen und blockte alles ab. Ich schwitzte und gleichzeitig war mir kalt. Hier ging es um meine Zukunft, das war mir, obwohl ich gerade mal zwölf Jahre alt war, durchaus bewusst.
„Wir gehen nächstes Jahr ohnehin zurück in die Türkei“, sagte mein Vater. „Dort braucht sie kein Abitur. Sie wird heiraten und eine gute Hausfrau sein. Das lernt sie am besten bei ihrer Mutter, bestimmt nicht auf dem Gymnasium.“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. In die Türkei? Schon nächstes Jahr? Davon hatte nie jemand etwas gesagt.
Daraufhin bat mich mein Lehrer, für ein paar Minuten vor die Tür zu gehen, damit er sich mit meinem Vater allein unterhalten könne. Für mich war das eine unerträgliche Qual. Wenn es ihm ein Landsmann sagt, dachte ich verzweifelt, dann muss mein Vater das doch einsehen. Aber da irrte ich mich gewaltig, mein Vater blieb hart. Salih Torbali blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln. „Wie schade“, sagte er zu mir. „Ich fürchte, da kann ich nichts mehr tun.“
An diesem Abend flehte ich meinen Vater an, mich auf das Gymnasium zu lassen. Ich bettelte geradezu darum, doch er schrie mich nur an und befahl mir, nie wieder davon anzufangen.
Die folgenden Tage waren ein Albtraum aus Enttäuschung und Furcht vor der Zukunft. Ich kannte die Türkei lediglich aus unseren allsommerlichen Urlaubsbesuchen in der anatolischen Heimat meiner Eltern. Nie hatte ich daran gedacht, dass ich eines Tages selbst dort leben würde. Und auch jetzt konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Was sollte ich in der Türkei? Dahin fuhr man
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