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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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ich heiß und innig liebte. Ich lief ihr hinterher, wie ein Küken seiner Mutterhenne, sie nahm mich in die Arme, trug mich herum, knuddelte und küsste mich, und wenn es die Zeit erlaubte, las sie mir etwas vor. So ist es nicht verwunderlich, dass ich sehr unglücklich war, als mich meine Eltern schließlich im Alter von knapp fünf Jahren nach Hause holten. Alles war mir fremd, meine Eltern, meine Brüder, das Leben daheim. Ich hatte schreckliches Heimweh nach dem Krankenhaus und vor allem nach Schwester Marlies, sodass meine Eltern in den ersten Monaten immer wieder mit mir ins Krankenhaus fuhren, damit ich sie besuchen konnte. Es war ihre Idee, meinen Eltern weiße Krankenhauskittel mit nach Hause zu geben, damit ich mich besser an sie gewöhnen konnte. Ich sprach ja nicht einmal Türkisch, denn im Krankenhaus hatte ich von Schwester Marlies nur Deutsch gelernt. So konnte ich mich mit meiner Mutter, die nach all den Jahren in Deutschland die Sprache nur notdürftig beherrschte, nicht einmal unterhalten. Und tatsächlich trugen meine Eltern einige Wochen lang diese weißen Kittel, damit ich bei ihnen heimisch wurde. Es dauerte Monate, bis ich mich endlich in diese mir fremde Familie einfügen konnte.
    Inzwischen hatte ich noch einen kleinen Bruder, Ilhan, bekommen und alle zusammen wohnten wir in einem winzigen uralten Häuschen, das man „Schwedenhaus“ nannte, weil es aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg stammte, dem sogenannten „Schwedenkrieg“. Was heute wie eine touristische Sehenswürdigkeit klingt, war für mich damals der reinste Albtraum. Das niedrige, katenartige Haus mit dem riesigen Dach duckte sich in einen schäbigen Garten, nachts knarrte es im Jahrhunderte alten Gebälk, und ich war mir sicher, dass in diesen Mauern Gespenster aus und ein gingen. Gemeinsam mit meinen Brüdern bewohnte ich eine Kammer mit Stockbetten. Ich musste oben schlafen, was mir noch mehr Angst einflößte, denn ich glaubte mich den bösen Geistern unter dem Dach nur umso näher. Ängstlich beobachtete ich die großen Spinnen, die aus allen Ecken gekrochen kamen. Sooft man sie auch entfernte, am nächsten Tag waren sie doch wieder da.

    |14| Das „Schwedenhäuschen“
    Ich sehe mich noch auf Zehenspitzen am hölzernen Zaun unseres Gartens stehen, um einen Blick auf das Leben da draußen zu erhaschen, denn ein paar Häuser weiter befand sich ein Gasthof, der im Sommer auch draußen Tische stehen hatte. Dort saßen Menschen, lachten, tranken, und ich hatte den Eindruck, dass sie glücklich waren. Dann trat meine Mutter neben mich, die mir erklärte, dass sich dort die deutschen Huren aufhielten, die auf Männerschau waren, und dass die Deutschen ohnehin alle völlig verkommen und verdorben seien.
    „Die ficken mit jedem rum“, sagte sie mit Abscheu in der Stimme, und obwohl ich damals weder wusste, was eine Hure ist, noch eine Ahnung hatte, was das Wort „ficken“ bedeutet, begriff ich, dass diese Menschen offenbar etwas ganz Schreckliches taten. Und trotzdem beschlichen mich schon damals Zweifel, ob das auch wirklich stimmte, denn sooft ich auch über den Zaun spähte, ich konnte dort nie etwas beobachten, was den Abscheu meiner Mutter auch nur im Entferntesten verdient hätte.
    |15| Solange ich klein war, bis zu meiner Pubertät, erlaubte mir meine Mutter, mit Nachbarskindern zu spielen, auch wenn es Deutsche waren. Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal bei unseren Nachbarn eingeladen war und die schöne Wohnung bewunderte, in deren Zimmerecken keine hässlichen Spinnen darauf lauerten, mir Angst einzujagen. Doch noch mehr als alles andere faszinierten mich die Spielsachen meiner kleinen Freunde. Wenngleich sie bescheiden waren, denn auch diese Leute waren nicht besonders reich, war es doch mehr, als ich besaß: nämlich nichts. Am allerschönsten fand ich aber, wie freundlich die Mutter zu uns war. Ich konnte es gar nicht fassen, dass sie uns Saft zu trinken anbot, uns hin und wieder ein Wurstbrot machte oder ein Stück Schokolade brachte. „Kann ich euch noch etwas Gutes tun?“, fragte sie uns eines Tages, und ich muss sie mit offenem Mund angestarrt haben, denn sie musste schrecklich lachen. Diesen Satz habe ich nie vergessen, und hin und wieder, wenn meine Mutter gar zu garstig zu mir war, sprach ich ihn mir leise vor: „Kann ich euch noch etwas Gutes tun?“, und mein Herz wurde ein wenig leichter.
    Die Nachbarsfamilie wohnte nur zwei Minuten von uns entfernt, aber dort herrschte ein anderes

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