Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
Vom Netzwerk:
ein Gespräch mit dem Chef der türkischen Firma, und auf einmal war ich die Chefbuchhalterin eines Unternehmens mit mehreren Filialen, hatte von der Buchhaltung bis zur Lohnabrechnung alles zu machen und achtzig Angestellte zu betreuen. Die Aufgabe war kompliziert, es ging um Geldverkehr ins Ausland, und auch wenn ich während meines Praktikums Erfahrungen in der Buchhaltung gesammelt hatte, war doch alles neu für mich.
    Plötzlich bekam ich Panik: Würde ich das schaffen? Ich hatte keinerlei Berufserfahrung. War das alles nicht eine Nummer zu groß für mich?
    Doch Michael, mein neuer Chef, machte mir Mut. „Wir schicken dich zu einem dreitägigen Datev-Seminar, da lernst du alles, was du brauchst. Und wenn etwas unklar ist, fragst du einfach uns.“
    |112| Drei Tage in der Woche arbeitete ich bei der türkischen Firma im Büro, die restlichen zwei Tage verbrachte ich in der Kanzlei. Dort wurde ich sofort in die Kollegen-Familie aufgenommen. Ich hatte unendlich großes Glück, denn meine neuen Kollegen waren wirklich unglaublich nett. Was immer ich auf dem Herzen hatte, ich konnte sie alles fragen. Oft saß ich bei der türkischen Firma im Büro mit dem Telefonhörer am Ohr und hatte jemanden aus der Kanzlei in der Leitung. Für die anderen war das in Ordnung, in erster Linie war ich ohnehin das Bindeglied zwischen der Kanzlei und dem Kunden. Denn außer mir sprach niemand Türkisch.
    Tagelang beschäftigte ich mich damit, wie ich eine bestimmte Sache am Besten lösen konnte. Und wenn mich abends mein Mann wieder zusammenschlug, dann nahm ich eine Aspirin, legte mich ins Bett und überlegte mir die Lösung für mein Problem. Oft sagte Refik:
    „Du gehst da morgen nicht hin.“
    „Klar geh ich da hin!“
    Und jeden Morgen stand ich aufs Neue auf, zog mich an und ging zur Arbeit. Denn sie war es, die mich in jener Zeit am Leben hielt.
    Im Büro zeigte ich nie, wie es mir zu Hause erging. Refik schlug mich inzwischen so routiniert, dass man mir die Spuren seiner Misshandlungen kaum noch ansah. Auch von meiner angespannten Seelenlage bekam nie jemand auch nur das Geringste mit. Während der Arbeit widmete ich mich zu hundert Prozent meinen Aufgaben, und wenn ich nach Hause ging, stellte ich mich der Situation in meiner Ehe. Das führte zu einem ziemlich extremen und zweigleisigen Leben. Das Zusammensein mit meinen Kollegen aber stärkte mich, gab mir Mut und Kraft, hier ging es so anders zu, als ich es von meiner Familie kannte, es wurde nicht herumgeschrien, jeder respektierte den anderen, man war freundlich zu mir, auch wenn ich die typischen Anfängerfehler machte und oft das Gefühl hatte, dass ich mehr von der Firma bekam, als ich geben konnte. Dass mich diese wunderbaren |113| Menschen so aufrichtig und ohne Vorbehalte aufnahmen, das tat mir unendlich gut, sodass ich mich langsam und fast unmerklich veränderte. Ich wurde selbstbewusster. Ich erkannte immer deutlicher, was für ein kleines Licht mein Ehemann war. Ich erfuhr jeden Tag, dass es da noch etwas anderes gab, eine andere Welt, und ich, die hässliche, übergewichtige Şengül, die mehrmals die Woche verprügelt wurde, begann tatsächlich, dazuzugehören. Und Tag um Tag löste ich mich mehr aus der ängstlichen, devoten Haltung der duldenden Ehefrau.
    Es gab immer noch Nächte, in denen ich mich heimlich in den Schlaf weinte, aus lauter Angst, ich könnte es nicht schaffen und müsste irgendwann aufgeben. Und dennoch, am nächsten Morgen rappelte ich mich wieder auf, fasste neuen Mut, ertrug Refiks bösartige Bemerkungen, brachte Berna in den Kindergarten und ging zur Arbeit. Was ich nicht weiß, dachte ich, das lerne ich eben heute. Gestern hab ich schon so viel Neues gelernt, und morgen lerne ich noch mehr dazu.

    In dieser Zeit nahmen unsere finanziellen Probleme dramatisch zu, sodass Refik sogar seinen geliebten BMW verkaufen musste und sich stattdessen einen gebrauchten Kleinwagen anschaffte. Von den 15 000 D-Mark , die er für den BMW erhielt, sah ich nicht einen einzigen Schein. Monatelang versteckte er das Geld vor mir, und ich vermute, dass er es später zu seinen Eltern in die Türkei brachte.
    Jedenfalls konnten wir uns zwei Autos und das Benzingeld nicht leisten. Und so entschlossen wir uns, wieder nach Nürnberg zu ziehen. Für mich war das auf jeden Fall eine enorme Vereinfachung, und auch Refik konnte so Fahrgeld sparen. Wir hatten Glück und fanden drei Straßen von meinen Eltern entfernt eine passende Wohnung.
    Das war praktisch, da

Weitere Kostenlose Bücher