Loewinnenherz
die Hand, und ich kam mir vor wie in einem Film. Ich dachte: „Wow, Şengül, das ist jetzt dein allererster Schluck Alkohol.“ Viele Jahre später erzählte mir unser Gastgeber, dass er Refik gesehen hatte, wie er draußen in der Dunkelheit vor der Glastür herumgelungert und mich mit hasserfüllten Augen beobachtet hatte. „Mit Mord in den Augen“ waren seine Worte, und noch im Nachhinein läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Es war klar, unsere Beziehung bewegte sich in jenem Sommer auf eine Eskalation zu, und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann es knallen würde.
Der große Knall kam an einem Sonntag. Nach einem unserer üblichen Streits hatte sich Refik wie sooft in sein Auto gesetzt und war durch die Gegend gefahren. Ich hatte mir Arbeit mit nach Hause genommen und saß über meinen Büchern. Es war schon spät, und Berna schlief bereits friedlich in ihrem Bettchen.
Gegen 22 Uhr kam Refik wieder nach Hause. Wie sooft verlangte er grob, ich solle auf der Stelle mit ihm ins Bett gehen. „Nein“, sagte ich. Und das war das erste Mal, dass ich mich ihm verweigerte. „Ich bin am Arbeiten. Das siehst du doch.“
Ohne ein weiteres Wort ging er ins Kinderzimmer. Kurz darauf hörte ich Berna laut aufkreischen. Ich rannte ihm hinterher. Zum ersten Mal hatte er die Tür zum Kinderzimmer nicht abgesperrt. Ich sah Berna zitternd und schreiend in ihrem Bett. Refik prügelte mit voller Wucht auf unsere vierjährige Tochter ein. Und da war es plötzlich, als legte jemand einen Schalter um.
Ich kann heute nur schwer rekonstruieren, was damals genau geschah. Als ich sah, wie Refik auf Berna einschlug, erschien er mir wie ein blutüberströmter Teufel. So als sähe ich nur sein inneres Wesen, seine Boshaftigkeit, seine Grausamkeit. Ich muss mich auf ihn gestürzt haben wie eine Löwin; muss auf ihn eingeschlagen haben; von irgendwoher müssen mir Riesenkräfte zugewachsen |117| sein. Wie lange wir so miteinander gekämpft haben, weiß ich nicht, jedenfalls sah die Wohnung hinterher so aus, als sei ein Orkan hindurchgefegt. Ohne zu wissen woher hatte ich auf einmal einen Ledergürtel in meinen Händen. Ich schlang ihn um Refiks Hals und zog zu, daran kann ich mich noch deutlich erinnern. Ich war wie von Sinnen, schrie und tobte, und so fest ich nur konnte zog ich den Lederriemen immer enger um Refiks Kehle. Irgendwie kam ich wieder zu mir, Refik lag am Boden, röchelnd, doch noch am Leben. Ich ging zum Telefon, wählte die Nummer meines jüngeren Bruders und schrie in den Hörer: „Komm auf der Stelle hierher. Wenn du nicht kommst, gibt es hier Tote. Er oder ich, hörst du, er oder ich, einer von uns ist gleich tot.“
Ich packte in aller Eile eine Tasche voll mit Bernas Sachen. Mein Bruder kam, und ich sagte: „Ich verlasse ihn. Keine Macht dieser Welt bringt mich hierher zurück. Berna und ich kommen jetzt mit dir.“
Mit Berna auf dem Arm, die weinte und wimmerte, verließ ich unsere gemeinsame Wohnung. Für mich nahm ich nur meine Bücher mit, kein einziges Kleidungsstück, nur das, was ich auf dem Leib trug. Ein paar Tage lang lief ich in der Jeans meines Bruders herum. Mein Vater befand sich zu jener Zeit im Krankenhaus, er war wegen eines Leistenbruchs operiert worden und ziemlich schwach. Meine Mutter war alles andere als erfreut, als wir bei ihr auftauchten, doch endlich fand ich den Mut, zu erzählen, was Berna und ich die ganzen Jahre durchgemacht hatten.
„Ich lasse keinen Tag länger zu, dass dieser Teufel mein Kind schlägt“, erklärte ich. „Viel zu lang habe ich das mit angesehen.“ Und dann brach ich in Tränen aus und schluchzte so verzweifelt, dass selbst meine Mutter nicht wagte, mich zu meinem Mann zurückzujagen.
Am nächsten Tag ging ich zum Anwalt und reichte die Scheidung ein. Innerlich zitterte ich und zählte an den Fingern ab, wann Refik den Brief erhalten würde. Am Mittwoch stand er |118| bei uns vor der Kanzlei und verlangte mich zu sprechen. Ich war gerade mitten in einer Besprechung mit dem schon erwähnten Steuerprüfer, als die Sekretärin mich rief. Mein Chef kam dazu, bat Refik herein. Er bot mir an, bei dem Gespräch zugegen zu sein.
Es war eine verzweifelte Situation für mich. Zum ersten Mal prallten meine zwei Leben aufeinander, die ich mit so viel Mühe voneinander getrennt gehalten hatte: die neue Welt, die ich mir aufgebaut hatte, in der ich freundlich aufgenommen worden war, täglich dazulernte, mein eigenes Geld verdiente, wie ein Mensch behandelt wurde.
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