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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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ihm zurückkehren würde. Nach einer Woche hatte er sich in der Regel ein klein wenig beruhigt. Und ich hatte wieder etwas Kraft geschöpft.
    Während dieser Woche im Frauenhaus begegnete mir eine sechzehnjährige Türkin, die angeblich in die Zukunft sehen konnte.
    „Na“, fragte ich sie halb im Scherz, „und was wartet auf mich?“
    Meine Frage hatte ich eigentlich nicht ernst gemeint, und dennoch klopfte mir das Herz bis zum Hals. Fatima nahm meine Hand und betrachtete sie lange. Dann sagte sie: „Dein Mann wird sterben.“
    Ich zog meine Hand zurück.
    „Oh nein“, lachte ich, „darauf hoffe ich schon so lange, aber glaub mir, der stirbt nicht. Eher bringt er mich um.“
    |109| Fatima blieb ernst.
    „Doch“, sagte sie, „er wird sterben. Hier steht es, in deinen Linien. Und du wirst glücklich sein. Du wirst einen guten Beruf und Erfolg haben. Und am Ende wirst du auch noch deinen Traummann finden. Du wirst nicht gleich merken, dass ihr füreinander bestimmt seid. Du wirst dich anfangs sogar dagegen sträuben. Aber mit ihm wirst du Liebe und Glück finden.“
    Die anderen Frauen, die dabei waren, johlten und klatschten in die Hände. Mir war seltsam zumute. Auch wenn ich Fatima all die guten Nachrichten nicht glauben konnte, so tat es mir doch gut, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Mein Ehemann würde tatsächlich sterben? Wann? Und ich würde erfolgreich sein, einen Beruf haben? Und die große Liebe erleben?
    Jener Traum fiel mir wieder ein, der alte Mann, der gesagt hatte: „Beweise mir deine Geduld, und ich werde dich retten.“ Wie viel Geduld musste ich noch aufbringen? Wann war das Maß meines Leidens voll?

|110| 2 Durch die Hölle ans Licht
    Die Eskalation
    I m Februar gehe ich jeden Morgen mit zitternden Knien zum Briefkasten. Bald soll jener Brief eintreffen, der über mein Schicksal entscheiden wird. Und eines Tages ist es so weit, schon von der Treppe aus sehe ich den großen weißen Umschlag, der aus dem Briefkasten herausschaut. Ich halte den Atem an. Mir wird schwindelig. „Steuerberaterkammer“ steht dort als Absender. Ich reiße den Brief auf und sehe das Ergebnis: „Bestanden“. Ich stoße einen solchen Schrei aus, dass meine Nachbarin die Tür aufreißt, weil sie glaubt, ich werde schon wieder misshandelt. Ich falle ihr in die Arme, weine und lache gleichzeitig.
    „Ich habe bestanden! Ich habe bestanden! Ich bin jetzt Steuerfachgehilfin! Stell dir das mal vor!“
    Ich bin mit meiner Freude allein, aber das macht mir nichts. Meine Familie quittiert das Ergebnis mit großen Augen und bestürzten Gesichtern, sie wissen ganz genau, dass ich auf dem Sprung bin, aus meiner Ehe auszubrechen. Refik überschüttet mich täglich mit neuen Drohungen. Er werde mich umbringen, mich und das Kind. Und meine Familie, die würde er auch gleich mit auslöschen. Irgendwann höre ich einfach nicht mehr hin.
    Vier Wochen nachdem ich das Zeugnis erhalten habe, lese ich in der Zeitung eine Anzeige. „Steuerkanzlei sucht für türkischen Mandanten türkische Steuerfachgehilfin.“ Ich wähle die angegebene Nummer, frage, ob ich eine Bewerbung schicken soll, und werde sofort eingeladen vorbeizukommen, die Unterlagen könne ich ja zum Gespräch mitbringen.
    Alles kommt mir vor wie in einem meiner Träume. Die Sekretärin empfängt mich, ich werde in ein Besprechungszimmer geführt, für mich riecht es nach Aktentaschen und Macht. |111| Dann erscheint ein sympathischer junger Mann, er hat lebhafte blaue Augen und lächelt mich die ganze Zeit an. Er stellt mir einige Fragen und schaut sich mein Zeugnis an.
    Irgendwann frage ich: „Und wann kommt denn nun der Steuerberater?“
    Da muss er lachen und sagt: „Der Steuerberater? Na, der bin doch ich!“
    Ich kann es kaum fassen. Der Steuerberater meiner Eltern, bei dem ich neun Monate lang das Praktikum absolviert habe, war von einem ganz anderen Schlag gewesen: übergewichtig, groß und laut. Dieser charmante Mann hier in seinen flotten Jeans passt überhaupt nicht in das Bild, das ich mir vom Chef einer Steuerkanzlei gemacht hatte.
    „Sie können nächste Woche anfangen“, sagt er. „Und wenn Sie wollen, schon morgen.“
    Er hatte schon ziemlich lange nach einer Steuerfachgehilfin gesucht, die Türkisch spricht, denn unter seinen Mandanten befand sich eine große türkische Import-Export-Lebensmittelkette, und er brauchte jemanden als Bindeglied zwischen dem türkischen Unternehmen und der Kanzlei. Die Stelle war wie für mich geschaffen. Es folgte

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