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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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mir meine Mutter und meine Schwägerin mit Berna halfen, die nun in einen neuen Kindergarten kam. Hier sprachen mich die Erzieherinnen nach kurzer Zeit auf ein paar Auffälligkeiten an: Berna male für ihr Alter sehr untypische |114| und auffällige Bilder. Auf ihnen seien alle Menschen schwarze Kugeln ohne Arme und Beine. Ob in unserer Familie alles in Ordnung sei? Was denn die blauen Flecken des Kindes bedeuteten?
    Und wieder deckte ich meinen gewalttätigen Mann, doch die Wut in meinem Bauch wurde immer größer, und mir war klar, dass etwas geschehen musste, um diese Situation ein für alle Mal zu beenden. Aber noch immer sah ich keinen Ausweg. Refik drohte nun fast täglich damit, mich umzubringen, und ich spürte, dass in ihm eine Art Zeitbombe zu ticken begonnen hatte. Alles steuerte auf eine Katastrophe zu, doch ich verschloss die Augen davor, so gut es ging.
    Im April 1997 hatte ich meine Arbeit aufgenommen und schon im Juni wartete eine neue Herausforderung auf mich: mein türkischer Arbeitgeber wurde einer Steuerprüfung unterzogen. Es wurde überprüft, ob das Unternehmen die Steuer auf ihre Umsätze korrekt ausgewiesen und abgeführt hatte. In diesem Fall war es eine besonders komplizierte Prüfung, denn es gab Abweichungen von der Norm, je nachdem, ob die Geschäfte innerhalb Deutschlands oder mit einem Drittland getätigt worden waren, denn dann gab es auch Einfuhr- und Umsatzsteuerzoll, und so manche andere Tücke. Als mein Chef mir diese Details des Steuerrechts zum ersten Mal erklärte, verstand ich nur Bahnhof. Dann setzte ich mich am Wochenende zu Hause hin und schlug alles in meinen Büchern nach, nahm mir aus der Kanzlei Lektüre mit nach Hause und machte mich so nach und nach schlau. Und dazwischen ertrug ich, wie man ein Unwetter oder ein Erdbeben hinnimmt, das Gezeter meines Mannes, besänftigte ihn, so gut ich konnte, und ließ seine Gewalt über mich ergehen.
    Der Prüfer vom Finanzamt wollte natürlich die Originalrechnungen sehen, und manche musste ich aus der Türkei erst telefonisch anfordern. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, dass ich gar kein Hochtürkisch sprach, sondern sogenanntes „Bauerntürkisch“. Außerdem musste ich den Prüfer bei Laune |115| halten, der mit mir in den Räumen meines türkischen Mandanten saß, wo er keine Ruhe fand, weil dauernd Leute aus- und eingingen und ständig „diese türkische Dudelmusik“, wie er es nannte, lief. Irgendwann wurde es ihm zu bunt, und wir verlegten die Prüfung in die Kanzlei, wo wir mit allen Unterlagen einen Besprechungsraum belagerten. Dort sollte der Prüfer Zeuge einer für mich äußerst gefährlichen Szene werden.

    Einmal im Jahr lud die Kanzlei alle ihre Mitarbeiter zu einem Ausflug ein. Im Juni war es wieder so weit. Die Fahrt ging nach Berlin und der Höhepunkt unserer Reise sollte ein Besuch des „Cirque du Soleil“ sein. Wie sehr staunte ich, als auch ich eine Einladung erhielt. Nach Berlin! Und eine Vorstellung dieses wunderbaren, weltberühmten Zirkus sollte ich sehen! Doch natürlich erlaubte Refik nicht, dass ich mitfuhr. Meine Enttäuschung war grenzenlos. Meine Ausrede gegenüber meinen Kollegen, Berna sei krank und ich könne sie nicht allein lassen, klang fadenscheinig. Zu deutlich stand mir die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Meine Kollegen ahnten wohl schon seit einer Weile, dass bei mir zu Hause etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Und als mich mein Chef darauf ansprach, offenbarte ich mich ihm.
    Er war entsetzt.
    „Şengül“, sagte er, „du bist eine so liebe und tolle Frau, du musst dir das nicht gefallen lassen. Das ist doch kein Leben.“ Ich weinte und nickte und schüttelte auch wieder den Kopf. Natürlich war das kein Leben, wie ich es mir wünschte. Aber es schien mir das einzige Leben, das für mich möglich war. Ich ahnte ja nicht, wie rasch mein Vorrat an Leidensfähigkeit aufgebraucht sein sollte.
    Hatte ich schon nicht mit nach Berlin fahren dürfen, so nahm ich wenigstens eine Einladung zur Geburtstagsfeier eines Kollegen an. Auch Refik war eingeladen, doch er weigerte sich, mitzukommen. Obwohl er versuchte, auch mir zu verbieten, auf die Party zu gehen, setzte ich mich durch und ging hin.
    |116| Es war ein wunderschönes Fest an diesem 24. Juli 1997. Ich erinnere mich immer noch genau an diesen Abend. Da stand ich also mitten unter all diesen fröhlichen Menschen, von denen keiner ahnte, was es mich gekostet hatte, hierherzukommen. Jemand drückte mir ein Glas Sekt in

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