Loewinnenherz
mich hin: „Er schläft! Er schläft! Jetzt kann ich wieder lernen. Ich schaff das! Ich schaff das! Ich werde es allen zeigen!“
Und so lernte ich jede Nacht zwischen zwölf und drei Uhr, dann schlich ich mich ins Bett, und um sechs Uhr klingelte schon wieder der Wecker. In Situationen, in denen andere sich drei Tage lang ins Bett gelegt hätten, funktionierte ich wie ein Roboter, versorgte mein Kind und meinen Mann, ging zur Schule, machte den Haushalt, ertrug Refiks Quälereien und lernte in der Nacht, sobald er eingeschlafen war. Denn ich hatte ein Ziel. Bald kam die Zwischenprüfung, und ich hatte fürchterliche Angst, sie zu vermasseln. Doch ich bestand sie. Zu meiner Ausbildung gehörte auch ein neunmonatiges Praktikum bei einem Steuerberater, und ich schaffte es irgendwie, auch das Praktikum in meinem komplizierten Terminkalender unterzubringen und trotz des häuslichen Terrors zu bewältigen.
Morgens zog ich los, vorne trug ich Berna, auf dem Rücken meinen Rucksack, und so ging es zunächst zu meinen Eltern, wo ich die Kleine ablieferte und mir die Sticheleien meiner Mutter anhören musste: „Bist du noch bei Trost? Drückst die Schulbank mit einundzwanzig, wo du doch Mann und Kind hast – schäm dich!“
„Halt den Mund“, sagte ich einmal zu ihr, „ich will nicht so blöd enden wie du. Du weißt genau, wir brauchen zwei Gehälter. Und mit meiner Niere muss es nun mal ein Bürojob sein.“ Endlich war meine chronische Krankheit auch einmal zu etwas gut. Und tatsächlich, meine Mutter gab Ruhe. Meine Eltern halfen mir sogar dabei, einen Praktikumsplatz beim Steuerberater meines Vaters zu bekommen.
Er war ein autoritärer und dominanter Mann. Er schmiss auch schon mal Ordner durch die Gegend, wenn ihm etwas |105| nicht passte. Einmal, als ich „Excel“ falsch geschrieben hatte, brüllte er mich an: „Wie um alles in der Welt wollen Sie die Ausbildung bestehen, wenn Sie nicht einmal wissen, wie man ‚Excel‘ schreibt!?“ Tatsächlich musste ich mir alles länger anschauen als andere, ich war wirklich unglaublich ahnungslos nach all den Jahren, die ich versäumt hatte. Doch ich ließ nicht locker. Was ich nicht wusste, das erfragte ich. Von Anfang an fragte ich lieber fünf Mal nach, ehe ich etwas falsch machte, und das war immer in Ordnung. Es war für mich eine große Erleichterung, als Berna drei Jahre alt wurde und sie in einem Kindergarten bei uns in der Nähe aufgenommen wurde. Schon bald fielen einer Erzieherin ihre blauen Flecken auf.
„Was ist denn mit Berna passiert?“, fragte sie mich „woher hat sie denn die Blutergüsse?“
„Sie ist vom Fahrrad gefallen“, sagte ich und schämte mich zu Tode. Da packte mich die Kindergärtnerin und sagte: „Sehen Sie zu, dass Berna nie wieder vom Fahrrad fällt“, und dabei sah sie mir in die Augen, und mir war klar, sie wusste genau, was los war.
Zu Hause sagte ich zu Refik: „Hör auf, sie zu schlagen. Im Kindergarten haben die Frauen längst begriffen, was hier läuft. Wenn du so weitermachst, dann melden sie das der Polizei, und sie nehmen uns Berna weg.“
„Kein Scheißdeutscher nimmt mir mein Kind weg“, tobte er. Und ging auch bei Berna dazu über, ihr mit der Faust auf den Hinterkopf zu schlagen, damit man die blauen Flecken nicht sehen konnte.
In diesen Wochen und Monaten beschlichen mich ganz entsetzliche Fantasien. Ich wünschte mir nichts mehr als den Tod dieses Scheusals. Nachts, wenn ich darauf wartete, dass sein Atem regelmäßig wurde, um aufstehen und lernen zu können, hatte ich auf einmal Visionen, wie ich ihm kochendes Öl in die Ohren goss. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich fragte, ob ich wohl genügend Kraft hätte, um ihn zu erdrosseln. Ich betete jeden Abend: „Lieber Gott, nimm ihn zu dir. Mach, dass er stirbt. Erlöse mich von ihm.“ Da Refik Auto fuhr wie ein Wahnsinniger, |106| war ich eine Zeit lang fest davon überzeugt, dass eines Tages die Polizei an meiner Tür klingeln würde, um mir zu sagen, mein Mann sei tödlich verunglückt. Wie sehr sehnte ich diesen Augenblick herbei! Und dann erschrak ich wieder vor mir selbst, denn solche Gedanken passten einfach nicht zu mir, und einem Menschen den Tod zu wünschen, auch noch dem eigenen Mann, kam mir vor wie eine Sünde.
In dieser Zeit hatte ich einmal einen wunderschönen Traum, der mich über Monate hinweg tröstete. Ich befand mich in einer angenehmen, beruhigenden Höhle. Ich sah einen hell gekleideten Mann mit einem langen weißen Bart. Ich
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