Loewinnenherz
seitlich im Flur stand, war so geistesgegenwärtig, die Tür zuzuknallen. Deren Scheibe ging beim zweiten Schuss zu Bruch, die Fensterscheibe hinter mir beim nächsten. Mein Vater war in sein Schlafzimmer gerannt und hatte eine riesige Axt unter dem Bett vorgezogen, der Himmel weiß, woher er sie hatte. Er schob sie nach vorne durch die zerbrochene Tür, während er selbst in Deckung blieb, schwenkte sie drohend und schrie: „Komm hoch, du Feigling, dann hack ich dir den Kopf ab.“
Bei den nächsten Schüssen rieselte Putz auf meinen Kopf, und ich begriff in diesem Moment, es war blutiger Ernst. Ich konnte mich noch immer nicht rühren. Refik schoss das ganze Magazin leer, dann rannte er davon, sprang in seinen Wagen und raste mit quietschenden Reifen davon. Ich stand immer noch da, wie gelähmt.
Meine Mutter schüttelte mich.
„Ruf die Polizei“, schrie sie mich an.
Ich erwachte aus meiner Starre. Mit zitternden Fingern wählte ich 110 und schrie in den Hörer, dass er uns alle umbringen wolle. Ich war so außer mir, dass es mir fast nicht gelang, unsere Adresse zu nennen. Keine fünf Minuten später waren mehrere Streifenwagen da. Die Polizisten sicherten den Hauseingang. Zum Glück bemerkten unsere Nachbarn, dass Refik inzwischen um den Block gefahren war, seine Pistole nachgeladen hatte, und nun versuchte, von hinten auf unser Grundstück zu gelangen. Sie verständigten die Polizei, die die Nachricht über Funk an die Beamten vor Ort weitergab.
Als Refik die Polizisten sah, flüchtete er. Zwei Stunden lang kurvte er durch Nürnberg und Umgebung. Eine Zivilstreife folgte ihm die ganze Zeit und beobachtete ihn. Einmal hielt er an einer Tankstelle, legte die Pistole auf den Verkaufstresen und verlangte einen Schnaps. Der Mann bekam einen Riesenschreck und tat, was Refik wollte.
|124| Aus einem Zeitungsbericht einen Tag nach dem Mordanschlag
Irgendwann, ungefähr gegen 18:30 Uhr, kehrte er in unsere alte Wohnung zurück. Vor dem Eingang standen ebenfalls Zivilpolizisten, sie beobachteten ihn und ließen ihn ins Haus gehen. Von der Wohnung aus wählte Refik erneut die Nummer meines Bruders. Der schrie ins Telefon:
„Du! Du bist tot, Mann, du lebst nicht mehr! Du bist tot. Was du getan hast, dafür gibt es kein Pardon.“
Dann legte er auf.
Ich nahm das Telefon in die Hand und wollte mit Refik sprechen. Ich wollte ihm sagen, dass er sich ergeben sollte, dass er keine Chance mehr hatte. Zuerst ertönte das Freizeichen, doch dann war besetzt. Mir war klar, es war etwas passiert.
|125| Erfahren habe ich es erst rund zwei Stunden später als die Polizei kam und sagte: „Ihr Mann ist tot. Er hat die Wohnung in Brand gesteckt. Dann hat er sich in den Kopf geschossen. Es ist alles explodiert.“
Meine erste Reaktion war: „Und mein Computer? Ist der auch explodiert?“
Der Polizist sah mich fassungslos an.
„Welcher Computer? Da ist nichts mehr. Nichts.“
Nach allem, was passiert war, musste ich nun die trauernde Witwe spielen. Mein Vater rief Refiks Eltern an und schrie: „Euer Scheißsohn ist tot. Ja. Na, da müsst ihr euch nicht wundern, wenn ihr ihn mit einer Knarre losschickt.“
Doch die Schuldige war ich, ich wurde für seinen Tod verantwortlich gemacht, weil ich die Scheidung eingereicht hatte. Nur darum habe er sich die Waffe geholt. Tatsächlich: Wäre ich nach wie vor still leidend bei ihm geblieben und hätte zugeschaut, wie er mein Kind verprügelt, wäre alles „in Ordnung“ gewesen. Als sich der erste Schock nach Refiks missglücktem Attentat gelegt hatte, zeigten alle mit dem Finger auf mich.
Nicht alle. Meine Schwägerin nicht und auch nicht mein älterer Bruder. Doch für den Rest der Familie war ich eine Schlampe.
Natürlich ging die Geschichte durch die Presse, und so erfuhren auch meine Kollegen in der Kanzlei davon. Sie waren fürchterlich schockiert. Sie wussten nicht einmal, ob ich überhaupt noch lebte und trauten sich einige Tage lang nicht, anzurufen. Irgendwann taten sie es doch und meine Mutter sagte:
„Doch, doch, die lebt.“ Dann gab sie mir den Hörer.
Vorläufig war ich ohnehin noch krankgeschrieben. Ich bewohnte mit Berna bei meinen Eltern ein winziges Dachkämmerchen. Eines Nachts, als wir da zusammen auf dem Sofa zusammengekuschelt lagen, sagte Berna auf einmal:
„Gell, Mama“, sagte sie, „der Papa, der ist tot.“
Ich zuckte zusammen.
|126| „Ja“, sagte ich, „der ist tot.“
Nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich weiß, dass alle wollten,
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