Loewinnenherz
zu ihm mit Tränen in den Augen, „egal was, aber bitte setz mich nicht vor die Tür.“
„Natürlich setze ich dich nicht vor die Tür“, sagte Michael. „Wer soll sich denn um unseren türkischen Mandanten kümmern?“
„Ja aber“, stotterte ich, „der will doch nicht mehr mit mir arbeiten?“
„Natürlich will er. Nur nicht so offiziell. Du bist jetzt bei uns in der Kanzlei statt bei ihm in der Firma, und wenn er etwas von uns will, dann kommt er her. Und du machst weiter alles für ihn wie gehabt.“
Was war ich erleichtert! Zwar hatte ich nun nur noch eine Halbtagsstelle, aber das war besser als nichts.
|131| Mein Chef war es auch, der mir half, mich aus der Schuldenfalle, die mir Refik wie einen bösen Fluch hinterlassen hatte, und die mich zu erdrücken drohte, langsam aber sicher zu befreien. Er ging mit mir jeden einzelnen Posten durch, half mir bei der Korrespondenz mit den Banken, denen wir einen Vergleich vorschlugen, und irgendwann war die Zahl auf dem Tisch: Ich musste 18 000 D-Mark abbezahlen. Durch weitere Mahnungen, die ich nicht rechtzeitig bearbeiten konnte, bekam ich damals einen negativen Schufa-Eintrag.
Doch auch dabei half mir Michael, und gemeinsam erarbeiteten wir einen vernünftigen und realisierbaren Plan: zunächst mit 50 Mark monatlich, dann mit 100 Mark stotterte ich nach und nach eisern die Schulden meines toten Ehemanns ab. 2004 hatte ich es dann endlich geschafft und war schuldenfrei.
In der Arbeit wurde ich zwar nur für einen Halbtagsjob bezahlt, aber ich arbeitete freiwillig Vollzeit, denn nur so konnte ich lernen, was zur Berufspraxis einer Steuerfachangestellten nötig ist. Leider gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen der Kanzlei und meinem türkischen Mandanten immer schwieriger, sodass Michael sich gezwungen sah, ihm 1998 in meiner Gegenwart zu kündigen. Zu oft hatte er den Arbeitsablauf in der Kanzlei gestört, war unangemeldet hereingestürmt, hatte gerufen: „Wo ist Şengül?“, und wenn er mich nicht gleich antraf: „Şengül nix da? Warum?“, was schließlich untragbar geworden war. Ich schwitzte und fror gleichzeitig und fragte mich bang: „Und was wird jetzt aus mir?“
Diese Frage stellte ich Michael noch am selben Tag. Er grinste. „Du? Du wirst jetzt wohl arbeitslos.“
Ich wurde blass vor Schreck.
„Na“, sagte er, „nicht gleich so ängstlich. Was würdest du denn gerne machen?“
„Einkommensteuer“, hörte ich mich sagen.
„Na gut“, sagte Michael. „Dann machst du ab jetzt Einkommensteuer. Hier ist dein erster Fall. Schau ihn dir erst mal in Ruhe an.“ Und damit reichte er mir einen Packen Unterlagen.
|132| Was war ich erleichtert. Michael hatte das also bereits vorbereitet. Und so setzte ich mich mit klopfendem Herzen an meinen Arbeitsplatz und schlug die Akten auf.
Es dauerte nicht lange bis mir dämmerte, dass ich gleich eine äußerst verzwickte Aufgabe bekommen hatte. Ein Scheidungsfall mit vier verschiedenen Vermietungen, jede Menge Kapitaleinkünfte …
„Wenn du Fragen hast, komm ruhig zu mir“, hatte Michael noch gesagt. Gleich am nächsten Tag stand ich bei ihm auf der Matte. Und obwohl wir alles miteinander detailliert durchgingen, verstand ich zunächst nur Bahnhof. An diesem Abend heulte ich mich zu Hause erst einmal so richtig aus. Ich hatte tausend Fragen im Kopf und keine Ahnung, welche ich zuerst stellen sollte. Wie sollte ich das nur schaffen?, fragte ich mich bang.
Am nächsten Morgen aber stand ich tapfer auf und sprach meinem Spiegelbild während des Zähneputzens erst mal Mut zu: „Şengül“, sagte ich, „du hast das doch gelernt. So schwer kann es nicht sein. Das kriegst du schon hin.“
Ich glaube heute, dass dies einen großen Teil meines Erfolges ausmacht: die Fähigkeit und den Willen, mich immer wieder zu motivieren. Mir Mut zuzusprechen und mich wie ein Stehaufmännchen wieder aufzurappeln, wenn ich einmal umgefallen bin. Und das bin ich weiß Gott oft. Immer noch hatte ich dieses
Bild im Kopf, den Traum von der Anwältin, und ihr Bild machte mir Mut. Kam es hart auf hart, dann schloss ich die Augen und holte als Anwältin in meiner Fantasiewelt meine schönste Aktentasche hervor, strich über das glatte, warme Leder und wusste genau: Mit ihr an der Hand würde mir nichts geschehen. Und schon fühlte ich mich wieder stark genug, die nächste Hürde zu nehmen und eine neue Frage zu stellen.
Eines Tages gab mir Michael einen unschätzbar wertvollen Tipp:
„Wenn du mal wie der Ochs
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