Loewinnenherz
Rechnungen präsentiert. An manchen Tagen quoll der Briefkasten fast über, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Außerdem erreichten mich nach wie vor Morddrohungen aus der Türkei. „Du brauchst nicht zu glauben“, hieß es, „dass du einfach so davonkommst, nur weil Refik tot ist. Wir werden dafür sorgen, dass du ihm ins Grab folgst.“ Meist waren es meine Eltern, die solche Anrufe erhielten, und auch meiner Mutter wurde mit dem Tod gedroht, weil sie mir geholfen hatte, statt mich an meinen Ehemann auszuliefern. Mein Vater dagegen konterte auf seine Weise: „Wenn meiner Frau oder meiner Tochter auch nur ein Haar gekrümmt wird“, schrie er ins Telefon, „dann lösche ich euch alle aus.“ So ging das hin und her, von beiden Seiten der Telefonleitung wurde in die Hörer gebrüllt, bis man heiser war, doch am Ende waren alle sauer auf mich. Denn ich war schließlich schuld an allem. Ich war meinem Ehemann nicht hörig gewesen, hatte mich aufgelehnt und mich von ihm trennen wollen, und daraus war ein „Namus Davasi“ geworden, ein sogenannter „Ehrenfall“. Ich hatte bitter erfahren, dass die Familie, unser höchstes Gut, eine Art Gefängnis sein |129| kann, in dem es sogar ganz nett zugeht. Man versteht sich mit den Wärtern. Aber sie sagen einem, wo es langgeht und wo die Grenzen sind. Sie reden einem ein, dass die Mauern nur zum eigenen Schutz da seien. Und sollten sie eines Tages weg sein, dann sei man verloren. Und damit das ganze Schutzsystem funktioniere, müsse man sich den Gesetzen beugen.
Tut man das nicht und verlässt dieses Gefängnis, dann verliert man alles. Und in türkischen Familien ist es nun mal so, dass man nicht nur eine oder zwei Tanten hat, sondern zwölf. Verlässt man die Familie, dann reden sie alle nicht mehr mit einem. Weder die zwölf Tanten noch die vierzehn Cousinen, und das ist so schlimm, ein solch undenkbarer Verlust, dass es eigentlich nicht infrage kommt, diese Grenze zu überschreiten. Normalerweise riskiert kein türkisches Familienmitglied, aus diesem Familiengefängnis auszubrechen. Doch nach allem, was geschehen war, blieb mir einfach nichts anderes mehr übrig. Ich war mit einem Bein schon aus dem Gefängnis, an dem zweiten, verbliebenen, zerrte aber meine Familie mit Leibeskräften. Ich wohnte allein mit meinem Kind, das war meinen Eltern zum einen sehr recht, denn sie wollten mich nicht mehr unter ihrem Dach haben, zum andern aber war es auch ungehörig. Über Dritte erfuhr ich, dass meine Mutter herumerzählte, ich ginge auf den Strich. Das verletzte und erboste mich. Hatte ich es nicht schon schwer genug? Warum musste sie auch noch solch beschämende Lügen über mich verbreiten?
Die Situation überforderte alle. Ich erinnere mich an äußerst unschöne Besuche meines Vaters, gemeinsam mit meinem jüngeren Bruder, der nun ebenfalls meinte, die Familienehre verteidigen zu müssen, bei mir in meiner neuen Wohnung. Schließlich wurden diese Streitereien und Vorwürfe so unerträglich, dass ich beiden freundlich, aber sehr bestimmt die Tür weisen musste.
Eines Tages ging ich selbst ans Telefon, als meine ehemalige Schwiegerfamilie einmal wieder anrief und die wüstesten Beschimpfungen in den Hörer schrie, und hörte mir alles an. Und dann sagte ich:
|130| „Ihr sagt, ich sei schuldig. Aber nur Gott allein weiß, wer wirklich Schuld trägt. Und Gott wird denjenigen strafen, nicht ihr. Wenn ich die Schuldige bin, wird Gott mich richten. Und wenn nicht, dann werden wir ja sehen, wen seine Rache trifft.“
Und tatsächlich, ein Jahr später geschah etwas, was alle zur Besinnung brachte. Doch so lange musste ich das Gezeter und Geschimpfe aushalten.
Befreit aus den Fesseln meiner unerträglichen Ehe musste ich an allen Fronten gleichzeitig kämpfen, und der Konflikt mit meiner Familie war der schmerzhafteste und sinnloseste von allen. Hatten sie nicht gesehen, wozu dieses Monster von einem Ehemann fähig gewesen war? Hießen sie es wirklich gut, dass nicht nur ich, sondern auch meine kleine Tochter regelmäßig brutalster Gewalt ausgesetzt gewesen war? War ihnen ein abstrakter Ehrbegriff wichtiger als das Leben ihrer Tochter? Doch wenn dem so war, konnte ich mich nicht mehr darum kümmern. Ich hatte anderes zu tun, musste mein Leben auf tragfähige Beine stellen, mich um mein tägliches Überleben kümmern.
Zuerst sprach ich mit meinem Chef und flehte ihn an, mich nicht einfach so meinem Schicksal zu überlassen.
„Bitte gib mir Arbeit“, sagte ich
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