Lohn des Todes
schade. Es wäre doch ein guter Anfang.« Sie lächelte.
»Wofür?«
»Zu kämpfen.«
Wir redeten noch eine Weile, leerten die Weinflasche. Irgendwann ging ich nach Hause, auch als Miriam mir ein Nachtquartier
anbot. Ich wollte in Ruhe über alles nachdenken und fühlte mich durch den Rotwein auch stark genug. Außerdem verlangte Charlie
Futter. Ich machte den Hund glücklich und sah mich dann in der Altbauwohnung an der Oppenhoffallee um. Vor Jahren hatten Martin
und ich diese Wohnung über Freunde bekommen. Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer wiesen zur Straße hinaus, Küche und Schlafzimmer
nach hinten. Die Wohnung im ersten Stock hatte einen langgestreckten Balkon über die ganze Hausbreite, von wo aus man einen
malerischen Blick in den verwilderten Garten hatte. Ich liebte diese Wohnung mit den hohen Stuckdecken und dem knarrenden
Parkett. Doch nun ging ich unruhig von einem Raum zum anderen. Hier hatten wir unser gemeinsames Leben begonnen. Hier hatten
wir zusammengelebt, uns geliebt, gestritten und wieder versöhnt. Als die Rechtsmedizin von Aachen nach Köln verlegt wurde,
war Martin das erste Jahr jeden Tag gependelt. Doch dann wurde es ihm zu anstrengend, und er nahm das Angebot von Andreas
an, sich mit ihm in Köln eine Wohnung zu teilen.
Dort war ich nur selten gewesen. Entweder kam Martin hierher, oder wir trafen uns in Hechelscheid.
Hechelscheid. Das Wort summte bedrohlich in meinem Kopf. Was passierte dort nun? Der Schreibtisch im Arbeitszimmer glich einem
Schlachtfeld. Martin hatte den Drucker und das Fax mitgenommen. Eine Nachricht hatte er nicht hinterlassen.
|61| Was glaubst du denn, Conny, dachte ich, dass er dir einen Liebesschwur schreibt? Angerufen hatte er auch nicht, ich kontrollierte
mein Handy in Minutenabständen.
So geht das nicht weiter, du machst dich nur verrückt. Hier zu sitzen und Trübsaal zu blasen ist der falsche Weg.
Ich nahm Charlie an die Leine und ging wieder zu meiner Praxis am Neumarkt.
Mit meiner Freundin Stephanie zusammen hatte ich die Praxisräume angemietet. Sie hatte eine Kinderarztpraxis auf der linken
Seite, ich meine Räume auf der rechten Seite. Hin und wieder lieh ich mir ihre Sprechstundenhilfe aus, aber für gewöhnlich
kam ich gut alleine zurecht. Für Charlie hatten wir in dem kleinen Hinterhof eine Hütte aufgestellt. Manche Kinder hatten
Angst vor dem Hund, bei anderen war er ein gutes Einstiegsthema und hatte schon fast einen therapeutischen Nutzen.
Im Anbau hinter der Teeküche lagerten wir die Akten. Diesmal kochte ich mir erst einen Kaffee und nahm mir dann mehr Zeit,
um nach der dünnen Akte von Sonja zu suchen. Schließlich fand ich sie.
Ich hatte eine Zusammenfassung ihres Berichtes aus dem Alexianer angefordert, als sie bei mir in der Praxis aufgetaucht war.
Diesen las ich nun noch einmal. Die Mutter war sehr besorgt um das Kind gewesen. Die Zehnjährige hatte große Verlassensängste,
mochte weder alleine bleiben, im Dunkeln schlafen noch irgendwelchen außerhäuslichen Aktivitäten nachgehen. Sport war ihr
verhasst, ebenso kreative Arbeiten oder Jugendgruppen. Ihre Mimik und Gestik sowie der aktive Wortschatz wurden immer eingeschränkter.
Sie verharrte in ihrer Angst, der nichts zugrunde zu liegen schien. Normales, unauffälliges Elternhaus, besorgte Eltern, die
das Mädchen ermunterten, Kontakte zu schließen und aus sich herauszugehen. Doch statt dies zu tun, schottete Sonja sich mehr
und mehr ab. Schließlich blieb sie einige Wochen stationär in der Kinderpsychiatrie. Dann verbesserte sich das Verhalten zusehends,
und nach einiger Zeit |62| konnte das Kind wieder entlassen werden. Wir überwiesen sie zum Sozial-Pädagogischen Zentrum. Dort ging sie aber laut Unterlagen
nie hin.
Als sie zu mir in die Praxis kam, war sie ein Wrack. Ich erinnerte mich plötzlich wieder ganz genau an das Mädchen. Die Haare
strähnig, die Kleidung ungepflegt und schmuddelig. Sie fiel auf dem Sessel in sich zusammen, ein Häufchen Elend. Damals war
sie noch keine achtzehn, es war knappe fünf Jahre her.
In der ersten Stunde brachte sie kaum ein Wort heraus. Deutlich war nur, dass sie große Angst hatte. Immerzu schaute sie über
die Schulter, bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. In der Zeitung hatte sie meinen Namen gelesen, die Praxis rausgesucht
und war zu mir gekommen, obwohl ich im Alexianer nur einige Tests mit ihr gemacht hatte. Doch sie schien positive Erinnerungen
an mich zu haben
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