Lokale Erschuetterung
mitjebaut. WBS 70, det war meine Serie sozusagen. Allet hier hab ick mitjebaut. Meinste, da jeh ick jetzt fürn Euro die Stunde schuppern? Det kannste doch verjessen. Ick mach doch nich fürn Euro den Rücken krumm. Lieber nehm ick die DDR zurück, als dass ick für ein Euro die Stunde.
Der Mann nimmt einen großen Schluck aus der Pulle, und die Frau, die für einen Euro arbeiten würde, wenn man sie nur ließe, schüttelt den Kopf.
Geschuftet ham wir doch alle, da kannste dir nüscht drauf einbilden. Aber besser is doch ein Euro die Stunde und was tun, als hier rumzuhängen.
Zwei nicken, einer schüttelt den Kopf, die zweite Frau in der Runde schläft ein.
Veronika steht auf und läuft weiter. Ich sollte ein bisschen über das lebende Kind nachdenken. Ich sollte mir mal überlegen, was nun gerade läuft. Aber wohin sie jetzt auch denkt, es bleibt leer im Kopf. An dieser Stelle für diese Nachricht ist nichts abgebildet, was in die Gegenwart trägt. Doch die Gegenwart verlangt, dass sie die Geschichte erzählt. Wem auch immer. Erst dann kann sie über die Briefe reden. Mit wem auch immer. Sie wird ihren Vater fragen müssen. Das ist Strafe genug fürs Verschweigen. Sie wird ihm gegenüber so tun müssen, als wüsste sie noch immer von nichts. Dann kann er ihr die Geschichte erzählen, als sei sie neu, und sich einreden, nicht belogen worden zu sein. Das klingt nach einem guten Plan. Nur die Frage, warum sie ausgerechnet jetzt nach Hause fährt, um sich |136| die Geschichte abzuholen, müsste sie erklären. Aber dafür kann Sabine Marschner herhalten. Das ist alles überhaupt kein Problem. Gar keins.
Ihr Vater ist ein guter Mensch. Sie könnte es nicht anders sagen, fragte sie jemand danach. Zum Glück tut dies keiner. Veronika hat keine Erklärung dafür, dass die Beziehung so lose und kraftlos geworden ist. Hin und wieder schreibt sie einen Brief. Sie selbst bekommt jeden Monat einen von ihm. Darin steht nie ein Vorwurf, und Fragen stellt er auch nicht. Manchmal schreibt ihr Vater etwas über ihre Mutter, seine Frau. Die eines Tages gegangen ist. Verschwunden. Auf diese Sprachregelung hatten sie beide sich geeinigt, ihr Vater und sie. Die Zeit fiel in zwei Teile. Den bevor Mutter verschwunden ist, und den nachdem Mutter verschwunden ist. So blieb es eine Weile. Dann unterließen sie es, die Ereignisse und Erinnerungen danach zu ordnen. Und dann hörten sie auf, miteinander zu reden. Eine ganz einfache Geschichte war das. Ganz einfach.
Veronika läuft an den WBS-70-Träumen vorbei und summt gegen den Takt der Schritte.
Ich hab die Nacht geträumet wohl einen schweren Traum, es wuchs in meinem Garten ein Rosmarienbaum. Ein Kirchhof war der Garten, das Blumenbeet ein Grab, und von dem grünen Baume fiel Kron und Blüte ab.
Veronika schaut kurz auf die Karte und überlegt, ob sie hier besser rechts in die Toni-Stemmler-Straße abbiegt, um einen Kreis zu laufen, zurück in die Innenstadt. Dann sieht sie, dass sie das Gleiche auch einen halben Kilometer später tun kann. Dort geht es rechts in die Erich-Weinert-Straße. Auch gut.
Die Blüten tät ich sammeln in einem goldnen Krug, der fiel mir aus den Händen, dass er in Stücke schlug. Draus sah ich Perlen rinnen und Tröpflein rosenrot. Was mag der Traum bedeuten, Herzliebster, bist du tot?
|137| Veronika bleibt stehen. Sie schaut, wo sie hier ist, und erkennt nichts und nichts. Was ist denn das für eine Geschichte, dass ich hier stehe und nicht nach meinem Kind suche? Dann geht es endlich. Mit dem Weinen. Sie steht zwischen WBS 70 und dem Ende von allem und heult. Sie stellt die Tüte mit dem schwarzen Kleid ab und sucht nach einem Taschentuch und Rettung. Wo hab ich die Tempos, murmelt sie, und seltsamerweise tröstet das. Dieses Gekrame in der Tasche rückt alles wieder ins halbwegs rechte Licht. Sie findet die Tempos und verbraucht zwei, hört auf zu heulen und läuft wieder los. Eine Stunde später ist die Runde beendet, steht sie wieder auf dem Marktplatz und hat nur noch zwanzig Minuten rumzukriegen, bis sie sich mit Hanns im Eiscafé trifft.
Hanns läuft mit dem Berg durch Frankenburg und lässt den Mann reden und reden. Jochen Moltke ist nicht zu bremsen. Er zeigt auf Häuser und nennt Namen, die Hanns schon im Moment des Hörens wieder vergisst. Klar muss er all diese Leute kennen. Irgendwann. Aber niemand kann verlangen, dass sie ihm jetzt schon im Kopf bleiben. Sind doch nur Namen.
Hier tagen Stadtverordnetenversammlung und Kreistag, da treffen
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