Lokale Erschuetterung
sein Kind an die Tablettenvorräte lasse, könne keine gute Mutter und auch kein guter Vater sein.
Veronika hatte das kleine Foto in einen Ikea-Bilderrahmen gesteckt und in ihrem Arbeitszimmer aufgehängt. Hanns fand es amüsant. Meine kleine Infantin hatte er sie genannt, als sie ihm die Geschichte zu dem Foto erzählte.
Jetzt sitzt sie im Zug und fährt in die kleine Stadt, in der sie Königin war. Sie hatte ihrem Vater Bescheid gesagt, und der tat am Telefon so, als fände er ihren kurzfristigen Besuch nicht verwunderlich. Er hatte keine Frage gestellt, nur wissen wollen, ob sie über Nacht bleiben |144| würde. Ich denke ja, hatte sie gesagt. Richte dich mal drauf ein, wenn es nicht weiter stört.
Warum sollte es stören, hatte der Vater gefragt, und das war vielleicht der einzige Hinweis darauf, dass sie beide ein seltsames Verhältnis zueinander hatten, wofür es keinen Grund zu geben schien. Es war einfach seltsam.
Ich hole dich vom Bahnhof ab.
Damit hatte das Telefongespräch geendet, und nun sitzt Veronika im Zug und überlegt allen Ernstes, ob sie ihren Vater wohl erkennt, wenn er auf dem Bahnsteig steht. Sie tröstet sich damit, dass es ihm vielleicht genauso geht.
Aber so ist es dann doch nicht. Eckard Stinauer steht auf dem Bahnsteig und sieht aus, wie sie ihn in Erinnerung hat. Groß und schlank, fast mager, mit immer noch dunklem Haar und Geheimratsecken, die Nase riesig im schmalen Gesicht. Nur die Augenbrauen sind stahlgrau, was seinem Gesicht eine bizarre Anmutung gibt, als wäre es aus Teilen zusammengesetzt, die verschiedenen Menschen gehören. Er trägt einen Anzug, der mal altmodisch war und nun wieder modern ist. Darunter ein weißes Hemd. Veronika wundert sich, dass ihr noch nie aufgefallen ist, wie aristokratisch ihr Vater aussieht. Zum ersten Mal hat sie das Gefühl zu verstehen, was ihre Mutter an dem Kerl da auf dem Bahnsteig vor Jahrzehnten attraktiv gefunden haben mag.
Du siehst aus wie ein Direktor, sagt Veronika, als sie ihren Vater begrüßt und auf die Wange küsst.
Ich war schließlich auch einer.
Stimmt, das macht sie verlegen. Sie hatte das nicht als Anspielung oder Scherz gemeint, denn ihr war völlig entfallen, dass der Vater tatsächlich seine letzten sieben Berufsjahre Direktor eines kleinen Unternehmens war. Hier in dieser Kleinstadt, der sie mit achtzehn den Rücken gekehrt hatte.
|145| Willst du eine Runde durch die Stadt laufen?
Durch die Stadt laufen. Veronika muss lächeln. Da sind wir ja in zwanzig Minuten durch. Also gern.
Fünfundzwanzig Minuten wird es schon dauern.
Eckard Stinauer lächelt nun auch. Wir expandieren. Du wirst dich wundern, wie viele Eigenheime und Supermärkte es jetzt gibt.
Nein, sie wundert sich nicht. Dieses Phänomen, dass kein Elend groß genug ist, diese Entwicklung zu verhindern. Diese Lust, sich ein Haus zu bauen und sesshaft auf Ewigkeit zu werden, kennt sie zur Genüge.
Was machst du gerade, will der Vater wissen und fügt hinzu: Es ist eigentlich unmöglich, Veronika, dass ich dich das fragen muss. Wir sollten darüber reden, ob das nicht anders geht.
Sie nickt und denkt, dass sich nun nichts mehr wird reparieren lassen. Sie haben zu lange voneinander gelassen. Wie soll das anders werden?
Ich habe vor zwei Tagen einen neuen Job angenommen. Der Job meines Lebens, das kann ich dir sagen. Veronika lacht. Es gibt eine Zeitschrift für Leute, die Haustiere haben. Hunde, Katzen, Vögel, Fische, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten, Mäuse, alles halt. Oder besser, es ist ein Katalog, wie der von Quelle, nur dass dieser hier Futtertrog heißt und zu einer Ladenkette gleichen Namens gehört. Hast du bestimmt schon mal gesehen.
Ihr Vater nickt.
Die haben so Zeug wie Rascheltunnel im Safarilook für Katzen oder Hundesofas in Lederoptik. Es gibt sogar Hundebetten mit Wassermatratze, mit Strass besetzte Halsbänder, eine ganze Möbelkollektion, rosafarbene und blaue Welpenklamotten, Rockershirts für den Mops und pinkfarbene Kapuzenpullis für den Yorkshire Terrier, |146| Staubsauger für Tierhaare, Haubenkatzenklos mit Aktivkohlefilter oder selbstreinigende Katzentoiletten, Volieren im Antikstil, kubistische Vogelhäuser, Schlafsäcke für Hunde, Zelte für Katzen, einen aufblasbaren Welpenauslauf, Strandkörbe für Schäferhunde. Veronika kriegt sich nicht mehr ein. Sie kann nicht aufhören, all das aufzuzählen, was sie sich bei dem Vorstellungsgespräch angeschaut und im Katalog gefunden hat. Sie war sich vorgekommen wie die
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