Lokale Erschuetterung
Ein Mann, groß wie ein Berg, zwängt sich hindurch. Grabowski, da sind Sie ja. Moltke. Wir können aber auch du sagen.
Gibt wohl keine Alternative, denkt Hanns und schüttelt dem Berg die Hand. So einen Koloss hatte er nicht erwartet. Bei den paar Telefonaten war ihm zwar immer die laute tiefe Stimme aufgefallen, aber dass die aus einem Fleischberg kommt, von dem er sich nicht vorstellen kann, dass der sich auf zwei Beinen durch die Stadt bewegt, hatte er nie gedacht. Groß, kompakt, laut, glatzköpfig, rotnasig. So was in der Art war ihm bei den Telefongesprächen immer in den Sinn gekommen. Aber kein Berg. Ganz gewiss kein Berg.
Moltke sieht aus, als käme er von der Jagd oder wolle gerade hin. Grünes kurzärmeliges Hemd, darüber eine |128| Weste mit Hirschhornknöpfen, eine Hose, die nach Uniform aussieht, und ein Gürtel, dessen Schnalle irgendein Jagdmotiv ziert.
Irene, sagt Moltke und legt seine schwere Pranke auf den vollen Schreibtisch. Ich geh mit Grabowski ’ne Runde durch die Stadt. Was soll ich hier rumsitzen und ihm einen vom Storch erzählen. Ich zeig ihm Frankenburg, und dann trinken wir noch ein Bier.
Alle werden mich hier Grabowski nennen. Hanns nickt und lächelt und denkt, dass er nicht vergessen darf, Veronika anzurufen, falls er mit Moltke noch ein Bier trinken gehen muss. Da kann sie dann dazukommen oder muss allein ins Eiscafé gehen.
Um drei habe ich eine Wohnungsbesichtigung, sagt er sicherheitshalber, um jetzt schon einen Schlusspunkt für die Besichtigungstour zu setzen.
Moltke schaut ihn an.
Um Wohnung musst du dich nicht kümmern, ich zeig dir nachher eine, die wird dir gefallen, und die kannst du morgen beziehen, wenn du willst. Ist hier ganz in der Nähe. Zwei Zimmer, eine Essküche, Bad und Flur. Herz, was willst du mehr? Du kommst doch erst mal allein her, hast du gesagt?
Hanns nickt. Aber ich habe Besichtigungstermine.
Gib Irene die Nummern, die sagt die Termine für dich ab.
Was will der Berg von mir, denkt Hanns, aber es gefällt ihm auch, dass hier jemand schon alle Entscheidungen getroffen hat. Gut gefällt ihm das sogar. Er ist froh über alles, was er nicht selbst klären muss. Will das Zepter sowieso nicht in der Hand halten. Hanns schreibt Irene Paulsen die beiden Telefonnummern auf und verlässt mit dem Berg die Redaktion.
Veronika braucht eine halbe Stunde, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie zählt die Läden, an denen |129| sie vorbeikommt. Immerhin. Es sind zweiunddreißig. Fünfzehn davon wird sie auf keinen Fall betreten. Drei Apotheken, einen Billigschuhladen, ein vietnamesisches Krempel- und Klamottengeschäft, die Lebensmittelbuden, einen Neunundneunzigcentshop, den Spielzeugladen, zwei Babyausstatter, Jagdzubehör. Alles andere kann sie sich anschauen. Ein Geschäft sieht so vielversprechend aus, dass sie es sich bis zum Schluss aufsparen will. Das macht auch keine Mittagspause. Andere Läden schließen tatsächlich von zwölf bis zwei oder eins bis drei. Ein paar machen einfach schon um vier Uhr zu. Das lässt ja tief blicken, denkt Veronika. Wenn man hier um vier die Rollläden runterlässt. Offensichtlich fängt dann schon das ganze häusliche Elend an. Veronika merkt, dass sie voller Vorurteile ist. Wie Hanns.
Sie beginnt mit dem Buchladen. Der ist eine Mischung aus Papierwarengeschäft, Buchladen und Ramschbude. Drei Menschen sind hier unterwegs. Eine alte Frau steht vor den Kinderbüchern. Neben ihr die Verkäuferin. Ich suche ein Geschenk für meine Enkeltochter.
Wie alt die sei, die Enkeltochter, will die Verkäuferin wissen.
Jetzt wird sie sieben.
Sieben ist Charlotte schon, wundert sich die Verkäuferin, und Veronika überlegt, ob die Stadt wirklich so klein ist, dass man die Namen aller Enkeltöchter kennen kann. Möglicherweise. Sie bleibt vor dem Regal mit lokalen Reiseführern und Karten stehen. Greift nach einem Buch über Frankenburg und stellt es wieder ins Regal. Das wird Hanns wahrscheinlich alles in der Redaktion stehen haben, denkt sie. Und ich will es eigentlich gar nicht wissen, was so toll an Frankenburg ist. Hier komme ich sowieso nicht her, da kann Hanns sich auf den Kopf stellen und wieder auf die Füße. Ich werde jetzt den Test machen, denkt sie |130| und signalisiert der Verkäuferin eine Frage. Die kommt, und Veronika riecht ein Parfüm. Issey Miyake. Damit hat sich ein Vorurteil schon mal in Duft aufgelöst, denkt Veronika und fängt an zu lachen. Die Verkäuferin schaut ein wenig irritiert, lächelt aber
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