Lokale Erschuetterung
Gesamteindruck stören. Der hier also ist schwul.
Probieren Sie es an, sagt er. Über den Preis reden wir nachher.
Veronika geht in die Umkleidekabine, in der ein Spiegel hängt und ein Filmplakat, auf dem Judy Garland abgebildet ist. Sie stellt sich vor, wie so eine Kleinstadtmatrone in der Kabine steht, sich in ein weinrotes Leinenkleid zwängt und dabei mit Judy Garland misst. Wie sie in den Wettbewerb mit der ätherischen Gestalt auf dem Plakat tritt, ihn verliert und hocherhobenen Hauptes den Laden verlässt. Ohne weinrotes Leinenkleid. Mutig, mutig, flüstert Veronika und steigt in das Schwarze. Dann dreht sie sich um, |133| schaut in den Spiegel und sieht eine fremde Frau. Das ist ja der Hammer, denkt sie. Wo hat der denn dieses Kleid her, und was macht das Kleid hier in Frankenburg? Sie verlässt die Kabine und stellt sich mitten in den Laden.
Ich habe gewusst, dass eines Tages die passende Frau für dieses Kleid zu mir kommen würde.
Der Mann zieht einen großen Kreis um Veronika, die sich nicht bewegt.
Es ist für Sie gemacht, sagt er, und sie glaubt ihm jedes Wort. Dieses Kleid ist für sie gemacht, und nur für sie. Sie geht zurück in die Kabine, zieht es aus, geht zur Kasse, legt das Kleid hin und holt ihre EC-Karte aus dem Portemonnaie. Der schwule Ladenbesitzer schreibt einen Kassenzettel, auf den Veronika nicht schaut, und bucht einen Betrag von ihrer Karte ab, der sie nicht interessiert.
Wenn es hier nur dreißig Frauen wie Sie gäbe, sagt er und reicht ihr die Tüte mit dem Kleid über den Ladentisch, bliebe ich hier.
Wollen Sie gehen?
Irgendwann. Auf jeden Fall. Hier findet man ja nicht mal einen passenden Kerl.
Veronika lächelt. Es gibt nichts Schöneres als ein bestätigtes Vorurteil.
Hier sind Sie der König, sagt sie. Ein Solitär, das sollten Sie nicht verachten. Niemand macht Ihnen etwas streitig.
Stimmt. Aber ich muss ja doch eine Suppe kochen können von dem, was ich verdiene. Und allein sein will man auch nicht ewig.
Dagegen ist nichts mehr zu sagen. Veronika nickt, nimmt die Tüte und geht. Sie schaut auf die Uhr. Nach ihrer Vorstellung müsste es gleich drei sein. Es ist kurz vor eins. Verdammt, verdammt. Die Zeit vergeht hier überhaupt nicht. Was mache ich jetzt noch die zwei Stunden? Veronika schaut auf ihre Schuhe, die ein paar Kilometer aushalten |134| werden, und läuft los. Vielleicht hätte ich mir doch einen Stadtplan kaufen sollen, denkt sie und schwenkt noch einmal kurz ab in die Stadtinformation am Marktplatz. Greift sich einen kleinen Plan für zwei Euro ab und läuft los. Sucht beim Laufen die längste denkbare Strecke innerhalb der Stadt aus. So klein ist Frankenburg gar nicht. Zwei Stunden kriegt sie gut und gerne rum.
Schon nach zehn Minuten wird Frankenburg das, was sie sich darunter vorgestellt hatte. Die hübsche kleine Innenstadt endet mit einer sichtbaren Grenze. Sogar ein Stück Stadtmauer ist noch zu sehen. Und dahinter beginnt das Elend. Aber das hat lange Straßen, auf denen man einfach laufen kann und laufen, vorbei an Wohnmaschinen, Parkplätzen, Supermärkten, vor denen immer mindestens zwei Trinkbrüder sitzen. Ein Niedrigpreis bringt es auf drei Brüder und zwei Schwestern. Die haben sich gleich einen ganzen Kasten Bier vor die Füße gestellt und diskutieren angeregt. Veronika hat sich schon so oft gefragt, wie es kommt, dass diese trinkenden Brigaden vor den Supermärkten offensichtlich ununterbrochen miteinander reden können. Obwohl es ihnen doch an Input fehlen müsste. An Input fehlen müsste, bin ich bescheuert, denkt sie. Schreibe ich hier gerade ein Marketingkonzept, oder was? Sie dreht ab und geht auf den Supermarkt zu. Beschließt, eine Flasche Wasser zu kaufen und ein bisschen zu lauschen, was die Biercombo debattiert. Sie holt Wasser und setzt sich auf die Nachbarbank. Irgendjemand hatte den großartigen Einfall, vor dem Supermarkt vier Bänke im Karree aufzustellen. Die Biertrinker verstummen kurz, werfen ein, zwei Blicke auf Veronika und reden dann weiter.
Wennden Eineurojob angeboten kriegst, musstn nehmen, sagt eine Frau. Ist doch besser, als hier rumzuhängen, oder was?
|135| Ick muss jarnüscht, antwortet der Mann daneben. Er nuschelt ein bisschen, ist fast zahnlos. Ick hab zwanzich Jahre uffm Bau jearbeitet. Det reicht. Und wennse mir hier nüscht Anständiges bieten, nehm ick doch lieber die Stütze. Det hier, sagt der Zahnlose und kreist mit großer Geste das ganze Neubauareal hinter sich ein. Det hier hab ick allet
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