Lokale Erschuetterung
ob er dein Sohn ist.
Hanns greift mit der linken Hand nach Veronikas Arm und stößt dabei seine Kaffeetasse um. Fegt sie mit der Hand einfach vom Tisch und schaut nicht mal, welchen Schaden das anrichtet. Krallt sich ihr Handgelenk und |205| legt seine Finger wie eine Fessel darum, als wollte er sie nicht wieder loslassen, egal, was kommt.
Es kann nur Daniel sein. Warum sonst sollte er sich in unser Leben geschlichen haben?
In dein Leben, Hanns. Er hat sich nur in dein Leben geschlichen. Ich habe ihn noch nie zu Gesicht bekommen.
Das ist der Beweis. Er hat es immer vermieden, dass ihr euch trefft. Du hättest ihn doch sicher erkannt, Vroni. Er wusste das. Alles wäre aufgeflogen, wenn ihr euch begegnetet.
Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht für einen Moment ein wenig dümmlich aus. Begegnetet, wiederholt er. Geht das überhaupt? Begegnetet?
Sie löst den Klammergriff um ihr Gelenk und reibt die roten Stellen.
Das ist jetzt egal, oder? Ob begegnetet geht. Du bist hier nicht in der Redaktion.
Ich muss nachsehen. Hanns steht auf und geht zum Regal. Holt den Duden raus und blättert. Müsste gehen, murmelt er dann und schmeißt den Duden auf den Boden. Mitten rein in die Kaffeepfütze.
Ich bin sicher, dass Daniel dein Sohn ist.
Damit ist es ausgesprochen. Der Satz gesagt. Das Unglück beschworen. Sie schauen sich an. Hanns und Veronika. Zwischen Blau und Violett wechseln die Gefühle. Er kann sich nicht entscheiden. Wünscht sich Blau. Nichts wünscht er sich mehr als die vertraute fette blaue Wut. Aber dieser Mischmasch, mit dem ist nichts anzufangen.
Wenn es Daniel ist, flüstert Veronika. Wenn es Daniel ist, dann darfst du ihm nichts tun.
Und wie recht sie hat. Wenn es Daniel ist, darf er sich nicht wehren. Er kann diesem Typen dann nicht einmal |206| die Fresse polieren, weil er Veronikas Sohn ist. Und wäre es denkbar, Veronikas Sohn zu verprügeln? Da hätten sie ja auch das tote Kind in die Gosse werfen können.
Hast du wirklich keine Gebärmutter mehr, fragt er und weiß, wie unsinnig diese Frage ist. Wie blöd er sich benimmt. Wie bescheuert er ist, sich hier hinzusetzen und zu hoffen, dass Vroni jetzt sagt: Aprilapril, natürlich habe ich meine Gebärmutter noch, wir können so viele Kinder haben, wie wir möchten.
Hast du dir angesehen, was ich hier mache?
Hanns will nicht mehr über Daniel reden. Er wird den jungen Mann am Mittwoch sehen, und entweder gibt es eine Katastrophe, oder alles bleibt, wie es ist. Unwägbar und komisch, aber nicht katastrophal.
Veronika weiß das und erzählt von dem Penner, den sie im Hauseingang neben der Redaktion getroffen hat. Und dass sie sich die Zeitung von heute angesehen hat, erzählt sie auch.
Die Geschichte mit dem Ziegenbock. Die hast du aber nicht geschrieben.
Hanns lacht. Vroni. Was wäre schlimm daran? Ist doch ’ne nette Geschichte. Die Konkurrenz hat getitelt: Liebesrausch bringt Ziegenbock Ärger – Haft im Tierpark für vierbeinigen Casanova. Das ist doch.
Hanns kriegt sich nicht mehr. Alles Blau und alles Violett verschwindet und macht einem pinkfarbenen Wahnsinn Platz. Zumindest vermutet er, dass es sich hier um Wahnsinn handelt. Pink hatte er noch nicht. Aber jetzt wird er langsam verrückt. Was nur gut ist, denn Vroni ist es längst. Verrückt. Und da muss eine neue Farbe ins Spektrum kommen.
Hast du schon mal erlebt, wie sich ein Ziegenbock benimmt, wenn er liebestoll ist? Und darunter, unter dem Ziegenbock, steht bei denen die Meldung Damenduo bei |207| der Linken. Bei uns Frauenforum spaziert. Wir sind hier alle so. Wir haben keine Hemmungen. Ein Ziegenbock ist allemal gut für die Seite eins. Glaub mir.
Veronika hört den Irrsinn, den Hanns da von sich gibt, und fragt sich, welche Farbe dieser Zustand in seinem Kopf wohl trägt. Sie kennt das ganze Spektrum ihres Mannes, hat es jahrelang studiert, um nicht zwischen die Räder zu kommen. Es sind immer mehr Farben geworden. Zumindest kommt es ihr so vor.
Sie denkt an die Monate nach dem Mauerfall. Wie er tagelang und ganze Nächte durch die plötzlich ganze Stadt lief. Nie wusste sie, wann er wieder für wie lange verschwinden würde. Er fehlte ihr in all den Wochen, sie war genauso verwirrt wie er. Ihr machte auch alles Angst. In ihrer Redaktion waren die Leute völlig wahnsinnig geworden. Die Ersten hatten schon das Handtuch geschmissen und waren gegangen. Andere tranken, faselten Unsinn, rechneten jeden Moment mit Abwicklung und Kündigung, stiegen in fremde Betten.
Weitere Kostenlose Bücher