Lolita (German)
als fünfzehn Stunden täglich daran arbeitete. Wenn ich an diese Tage zurückdenke, so sehe ich sie genau aufgeteilt in einen breiten Streifen Licht und einen schmalen Schatten: Das Licht entfiel auf den Trost, den ich aus den Forschungen in palastartigen Bibliotheken zog, der Schatten auf meine marternden Begierden und Schlaflosigkeiten, von denen genug die Rede war. Der Leser, der mich mittlerweile kennt, kann sich leicht vorstellen, wie heiß und staubig ich wurde im Bemühen, einen Blick auf die Nymphchen zu werfen, die (leider immer weit weg) im Central Park spielten, und wie sehr mich der Glamour der desodorierten Sekretärinnen und Büromädchen abstieß, die ein Spaßvogel in einem der Büros dauernd auf mich ablud. Überspringen wir das. Ein schrecklicher Zusammenbruch brachte mich für über ein Jahr in ein Sanatorium; ich kehrte an die Arbeit zurück - und erkrankte bald darauf von neuem.
Ein gesundes Leben in frischer Luft schien Aussicht auf Besserung zu bieten. Einer meiner Lieblingsärzte, ein reizender zynischer Bursche mit einem kurzen braunen Backenbart, hatte einen Bruder, und dieser Bruder stand im Begriff, eine Expedition in die kanadische Arktis zu unternehmen. Ich wurde ihr als «Beobachter psychischer Reaktionen» zugeteilt. Mit zwei jungen Botanikern und einem alten Tischler teilte ich (nie sehr erfolgreich) die Reize einer unserer Ernährungswissenschaftlerinnen, einer Dr. Anita Johnson - die glücklicherweise bald wieder zurückgeflogen wurde. Mir war nicht recht klar, welches Ziel die Expedition verfolgte. Nach der Unzahl von Meteorologen zu urteilen, haben wir möglicherweise versucht, den wabbligen, wandernden magnetischen Nordpol bis zu seinem Schlupfwinkel (anscheinend irgendwo auf der Prince of Wales-Insel) zu verfolgen. Eine Gruppe errichtete gemeinsam mit den Kanadiern auf Pierre Point im Melville-Sund eine Wetterstation. Eine andere, ebenso irregeleitete Gruppe sammelte Plankton. Eine dritte studierte Tuberkulose in der Tundra. Bert, ein Kameramann - ein unsicherer Patron, mit dem zusammen ich eine Zeitlang eine ganze Menge körperlicher Arbeiten zu verrichten hatte (auch er litt unter psychischen Störungen) -, behauptete, daß die Oberbosse unseres Unternehmens - die eigentlichen Leiter, die wir nie zu sehen bekamen - sich hauptsächlich für den Einfluß der klimatischen Erwärmung auf die Qualität der Polarfuchsfelle interessierten.
Wir wohnten in hölzernen Fertighütten inmitten einer vorkambrischen Granitwelt. Ausgerüstet waren wir mit allem möglichen - mit Reader''s Digest, einem Eiscreme-Mixer, chemischen Toiletten, Papiermützen für Weihnachten. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich zusehends, trotz oder wegen der phantastischen Odnis und Langeweile. Inmitten einer so trostlosen Vegetation, wie sie Weidenbuschwerk und Renflechten abgeben, durchpustet und vermutlich gereinigt von einem pfeifenden Sturmwind, saß ich auf einem Findlingsblock unter einem vollkommen durchsichtigen Himmel (durch den jedoch nichts Bedeutendes zu sehen war) und fühlte mich meinem eigenen Ich seltsam entfremdet. Keine Versuchung machte mich verrückt. Die dicken, glänzenden kleinen Eskimomädchen mit ihrem Fischgeruch, dem abscheulichen rabenschwarzen Haar und den Meerschweinchengesichtern weckten noch weniger Verlangen in mir als Dr. Anita Johnson. In Polargegenden kommen Nymphchen nicht vor.
Ich überließ es Klügeren, Gletscherwanderungen, Drumlins und Gremlins und Kremls zu untersuchen, und versuchte eine Zeitlang, zu notieren, was ich naiverweise für «Reaktionen» hielt (zum Beispiel bemerkte ich, daß Träume unter der Mitternachtssonne zu starker Farbigkeit neigen, und mein Freund, der Kameramann, bestätigte es mir). Zu meinen Pflichten gehörte es, meine verschiedenen Gefährten über allerlei wichtige Dinge wie Heimweh, Furcht vor unbekannten Tieren, Essensphantasien, nächtliche Pollutionen, Steckenpferde, Lieblingsradiosendungen, Änderung des Weltbilds und dergleichen auszufragen. Jedermann hatte das bald so satt, daß ich die Sache völlig aufgab und nur gegen Ende meiner «zwanzig Monate polarer Zwangsarbeit» (wie einer der Botaniker es scherzhaft nannte) einen ganz und gar verlogenen und sehr schnittigen Bericht verfertigte, den der Leser 1945 oder 1946 in den Annais of Adult Psychophysics sowie in der Nummer von Arctic Explorations findet, die dieser speziellen Expedition gewidmet ist; wie ich später von meinem launigen Doktor erfuhr, ging es bei der in
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