London 1666
auf den Tod wartete. Die Pest hatte ihren Gastkörper bereits mit einem abscheulichen Muster überzogen.
Lilith legte jedoch Wert darauf, keine anderen Menschen in Gefahr zu bringen. Die Zeit kurz vor Mittag schien ihr dafür nicht übel gewählt. Die meisten Frauen waren zu Hause mit der Essenszuberei-tung beschäftigt und ihre Männer auf der Arbeit.
Vom Fenster aus hatte Lilith beobachtet, wie die Menge der Passanten allmählich geringer geworden war, und jetzt bewegte sie sich selbst unter ihnen.
Falls durchschaut wurde, in welcher Verfassung sie war, würde sie sich nur dank ihrer hypnotischen Fähigkeiten davor bewahren können, zum St. Thomas oder einer anderen Sammelstelle für Pestkranke gebracht zu werden. Obwohl sie nicht wußte, wie solche Gettos genau beschaffen waren, zweifelte sie keine Sekunde daran, daß ihr das Elend dort das Herz gebrochen hätte. Denn wenn auch kleine Kinder wie Evelyn unter den Betroffenen waren, mußten die Verhältnisse fürchterlich sein.
Lilith glaubte nicht ernsthaft, daß etwas Wirksames zur Erleichterung der Notleidenden unternommen wurde. Man hatte völlig falsche Vorstellungen, über welche Wege sich die Pest verbreitete. Daß Flöhe in den Fellen der überall huschenden Ratten neben den bereits Erkrankten die Hauptkrankheitsüberträger waren, auf diese Idee war offenbar noch niemand gekommen .
Die Wight-Wohnung lag in der Fish Street. Lilith bog jedoch, einem unbestimmten Gefühl folgend, bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit ab und gelangte in eine Seitenstraße, die ein Schild als Pudding Lane auswies.
In der Pudding Lane herrschte um diese Zeit noch weniger Verkehr. Kaum eine Droschke fuhr hier, und nur eine Handvoll Leute verteilte sich über die Länge der Gasse. Der Grund dafür war, daß es kaum einen Laden mit ansprechend dekorierten Schaufenstern gab. Nur ungefähr in der Mitte der Straße stand ein hohes Haus, vor dem ein Pferdefuhrwerk hielt, von dessen Wagen schwere Säcke abgeladen wurden. Manchmal staubten aus ihnen kleine weiße Wolken. Wahrscheinlich handelte es sich um Mehlsäcke, die ins Innere des Gebäudes getragen wurden, und je näher Lilith der Stelle kam, desto unverkennbarer duftete es nach frischem Backwerk.
Als sie auf der anderen Straßenseite an dem Haus vorbeilief, las sie über dessen Toreinfahrt die Aufschrift: KÖNIGLICHES BACKHAUS.
Sie ging weiter, den Kopf leicht geneigt, um zu verbergen, was ihr im Gesicht und überall am Körper Schmerz bereitete. Aber nicht nur dieses Martyriums wegen fühlte sie sich ohnmächtiger als je zuvor in ihrem Leben. Am deprimierendsten war die Erkenntnis, die Jahre seit Heidelberg und der anschließenden Verfolgung des flüchtigen Satans völlig umsonst übersprungen zu haben.
Hier war der Teufel nicht!
Und selbst wenn doch, wie hätte sie ihn in diesem Zustand, in dieser Verfassung finden sollen? Lenas Körper war zu nichts mehr nütze und würde bald sterben.
Und dann?
Die Frage würde sich erst beantworten, wenn es soweit war. Fast hätte sie sich über ihre Ungeduld amüsieren können.
Aber nur beinahe.
Die Gasse, die sich Lilith trotz Übelkeit und Schwäche in den Gliedern entlangschleppte, mündete in die Tower Street, deren Verlängerung nach Westen hin zu einem Hügel mit einem mächtigen Turm führte.
Lilith fühlte sich jedoch außerstande, bis dorthin weiterzugehen. Lieber kehrte sie um und lief die ganze Pudding Lane noch einmal genauso zurück, wie sie gekommen war. In Höhe der Backstube überkam sie ein eigenartiges Gefühl, das sie so ähnlich schon beim ersten Vorbeigehen empfunden, aber ignoriert hatte. Auch jetzt wußte sie nichts damit anzufangen und beeilte sich, weiterzukommen. Sie wollte nicht stehenbleiben, weil sie fürchtete, dann aus eigenem Antrieb nirgends mehr hinzugelangen.
Ihr schwankender Gang mußte dem einen oder anderen Passanten schon auffallen, denn einige machten einen weiten Bogen um sie herum. Vielleicht entwickelte der Mensch in besonderen Zeiten auch besondere Instinkte.
Lilith beglückwünschte jeden, der ihr aus dem Weg ging - und sich selbst, weil sie die Wight-Wohnung schließlich doch noch erreichte.
Nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, wankte sie in die Schlafstube und ließ sich auf das Bett der Eheleute fallen, wo sie augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf versank und als letzten Gedanken beinahe hoffte, die Quälerei möge damit ein Ende finden.
Wenigstens die Quälerei in dieser immer noch
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