London 1666
unfähig sich zu rühren, gefangen und festgehalten vom Blick des Zyklopen.
Die Kralle löste sich von ihrer Haut. Die Hand des Monstrums schwang hoch und legte sich mit gespreizten Fingern auf Rubys Brustkorb. Ein Prickeln ging von der Berührung aus, und obwohl sie doch eigentlich Ekel und Entsetzen hätte verspüren müssen, entfuhr ihr ein wohliges Stöhnen.
Dann klang die Stimme auf.
Nicht wirklich, denn sie entstand direkt in Rubys Kopf. Es war ein Tonfall, der der fürchterlichen Erscheinung Hohn sprach: sanft, dunkel, beruhigend.
»Du bist auserwählt«, sagte die Stimme. »Meine Botin sollst du sein in dieser Zeit.«
Ruby wagte nicht zu antworten, gab sich ganz den Worten hin, die sich mit endlosen Echos bis in den entlegensten Winkel ihres Körpers fortzupflanzen schienen.
Dann kam der Schmerz.
Zunächst war es nur ein süßes Brennen, wie von Sehnsucht erzeugt, doch es wuchs schnell und füllte Rubys Brust bald mit eisigem Feuer. Von der Klaue ausgehend, überzog es ihre Haut, immer schneller und schneller, bis es das Mädchen vollends ausfüllte.
Als die Pein schier unerträglich wurde, durchbrach sie für wenige Sekunden den Bann, den der Blick des Zyklopen über Ruby gelegt hatte. Sie blickte an sich herab - und hätte aufgeschrien, wenn das Entsetzen ihre Lippen nicht versiegelt hätte.
Ihr eben noch makelloser Leib hatte sich auf grauenvolle Weise verändert. Jeder Zoll davon war mit eitrigen, schwarzen Beulen bedeckt - ein Schlachtfeld des Verderbens, zu schrecklich, um .
»Sieh mich an!« donnerte die Stimme in Rubys Kopf, und im gleichen Moment gerann der Anblick zu Gleichgültigkeit.
Wieder nahm das Auge sie gefangen. Die Schmerzen vergingen, das Feuer erlosch.
»Du wirst den Menschen meine Botschaft überbringen«, fuhr die Stimme fort, »die da lautet Tod und Verderben.«
Damit löste sich die Pranke von Rubys Brust.
Das nachtschwarze Wabern in der Pupille des vernarbten Auges loderte auf wie in einer lautlosen Eruption, drang gleichsam ein in Rubys Geist und brachte Dunkelheit und Vergessen.
Mit einem Seufzen brach das Mädchen zusammen und blieb reglos auf den Dielenbrettern liegen .
*
Sie hätte nicht sagen können, wieviel Zeit vergangen war, als sie erwachte.
Sie wußte nicht einmal, was überhaupt geschehen war, warum sie nackt auf dem Boden lag.
Rubys Körper schmerzte, als hätte ein Folterknecht ihn malträtiert. Ihre Zunge lag wie ein ausgetrockneter Fremdkörper in ihrem Mund, und ihre Augen tränten.
Unsicher und mit verschleiertem Blick kam Ruby auf die Füße. Wie durch einen seidenen Vorhang sah sie nur wenige Schritte entfernt die Gestalt ihrer Mutter, die offenbar ebenfalls gestürzt war und nun auf den Dielen saß.
»Was ... ist passiert?« fragte Ruby und rieb sich die Augen. Ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. Die Antwort der Mutter verstand sie nicht. Es hörte sich an wie ein Lallen, als wäre sie nicht ganz wach oder berauscht vom Alkohol.
Nachdem der Blick sich geklärt hatte, taumelte Ruby zu ihr hinüber. Jeder Schritt jagte stechende Schmerzen durch ihre Glieder, doch sie schien nicht verletzt; zumindest konnte sie keine Wunde ausmachen.
»Was ist ...«, begann sie erneut - und verhielt mitten im Satz, als sie in das Gesicht ihrer Mutter sah. Blanker Schrecken ließ sie einen Schritt zurücktaumeln.
Die Gesichtszüge der Frau vor ihr hatten mit denen ihrer Mutter kaum etwas gemein, obwohl sie es zweifellos war.
Der Unterkiefer hing haltlos herab; Speichel troff daraus hervor und hatte bereits eine kleine Pfütze am Boden gebildet. Die Augen blickten stumpf und wirr und schienen Ruby nicht zu erkennen. Wieder quoll ein unverständliches Lallen aus dem schiefen Mund, gefolgt von tumbem Lachen, wie es nur Schwachsinnigen zueigen ist.
Ein haltloses Zittern überkam Ruby. Ihre Knie wurden weich; sie mußte sich abermals auf den Boden niederlassen. Fassungslos starrte sie auf das menschliche Wrack, das einmal ihre Mutter gewesen war.
Was um alles in der Welt war hier geschehen?
Doch so sehr Ruby auch nach einer Antwort suchte, blieb die Erinnerung ihr doch verborgen .
*
Freitag, 31. August 1666
Lilith hielt es nicht mehr aus, freiwillig in dieses Haus eingesperrt zu sein, dessen Bewohner fortgebracht worden waren.
Am späten Vormittag wagte sie sich in einem dünnen Umhang und einem von Deborahs Hüten, der ihr Gesicht beschattete, hinaus auf die Straße.
Im Grunde spielte es keine Rolle, ob sie hier oder an einer anderen Stelle
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