London
anderen Häuser schickte er sich zum Aufbruch an. Doch dann fiel ihm noch ein, daß er ja etwas über diesen Burschen mit der weißen Haarsträhne hatte notieren wollen. Was hatte dieser Kerl zu seinem Status gemeint? »Diese verfluchten Engländer machen es einem wirklich nicht leicht«, murmelte er. Denn obwohl die Domesday-Untersuchung so gründlich war, waren die französischen Verwalter doch oft genug erstaunt über das, was sie vorfanden. »Ist dieser Mann ein Sklave, ein Leibeigener oder ein Freier?« fragten die ordentlichen Beamten, die auch Lateinisch konnten. Oft genug erhielten sie auf diese Frage einen Bericht über sonderbare, unbestimmte Vereinbarungen, die im Lauf der Zeit und aus der Gewohnheit heraus entstanden waren. Wie sollten sie nur diese angelsächsischen Unklarheiten in die klaren Kategorien einfügen, die in ihren Dokumenten vorgesehen waren? Bei solchen Unsicherheiten griffen sie auf eine allgemeine Kategorie zurück, deren legaler Status absichtlich vage gehalten war. Es war die des villanus – eine Art leibeigener Zinsbauer, die weder Leibeigener noch freier Mann bedeutete, sondern vor allem »Bauer«.
Der Beamte runzelte die Stirn. Er konnte sich einfach nicht erinnern, was der Bursche mit der weißen Haarsträhne gesagt hatte, doch er wußte noch, daß der Mann neben ihm ein Leibeigener war. Also schrieb er seufzend villanus in seine Unterlagen. Und so tauchte Alfred im großen Domesday-Book von England als kleiner, namenloser Fehler auf. Damals schien es nicht weiter wichtig zu sein.
1087
Im August 1086 kam es achtzig Meilen westlich von London in der Burg Sarum zu einem großen, symbolträchtigen Treffen. Dort wurden König Wilhelm die riesigen Bände seines Domesday-Book überreicht, und die bedeutendsten Männer seines Reiches machten ihm ihre Aufwartung. Eigentlich hätte es eine Gelegenheit zum Feiern sein sollen, doch die Stimmung war gedrückt. Der König wurde alt. Er war äußerst korpulent; wenn er sich in den Sattel schwang, tat er es unter Stöhnen. Er hatte nach wie vor zahllose Feinde, vor allem den neidischen König von Frankreich. Als die großen Männer des Königreichs sahen, wie gealtert und kränklich ihr König wirkte, überkamen sie düstere Vorahnungen.
Zwar war Wilhelm nur von wenigen geliebt, doch von allen gefürchtet. Zwar war er brutal, doch es herrschte Ordnung. Was würde aus seinen normannischen Ländereien und seinem englischen Königreich werden, wenn der große Eroberer nicht mehr da war? Sie würden an seine Söhne übergehen. An den düsteren, launischen Robert und an Wilhelm, der wegen seines roten Haares Rufus, der Rote, genannt wurde, einem klugen, doch auch grausamen Burschen. Er war noch nicht verheiratet, und es hieß, daß er sein Lager lieber mit jungen Männern als mit Frauen teilte. Und dann gab es noch Heinrich, den Jüngsten, der im Ruf stand, böse und unberechenbar zu sein. Außerdem war da noch ihr ehrgeiziger Halbonkel, Bischof Odo von Bayeux, der noch immer im Gefängnis saß, in das König Wilhelm ihn gesteckt hatte.
Im Frühjahr des neuen Jahres brach im Westen Englands eine Viehseuche aus, die sich rapide verbreitete. Schreckliche Stürme drohten die Ernte zu ruinieren. Wieder einmal kämpfte König Wilhelm auf dem Festland, und seine Verwalter versuchten bereits, neue Steuern einzutreiben.
In London trafen sich die Kaufleute und dachten über ihre Zukunft nach. Es fanden viele geheime Gespräche statt, und auch Barnikel nahm an einigen von ihnen teil.
Im Frühjahr 1087 erklärte Dorkes Osric, daß sie wieder schwanger war. Es war ihre dritte Schwangerschaft. Nach der ersten Tochter hatte sie eine weitere bekommen, die jedoch tot zur Welt gekommen war. Doch dieses gesunde Wesen, das sich da heftig in ihr regte, schien anders zu sein, und in seinem Herzen war sich Osric ganz sicher, daß er einen Sohn bekommen würde. Osric war erst Mitte Zwanzig, doch in jenen harten Zeiten hatte ein Arbeiter keine besonders lange Lebenserwartung. Ein reicher Kaufmann konnte in den Annehmlichkeiten seines Heims ein hohes Alter erreichen, doch Osric rechnete nicht damit, älter als vierzig zu werden. Er hatte bereits drei Zähne verloren. Vielleicht würde sein Sohn mit viel Glück schon einige Jahre alt sein, wenn der Vater starb; sein Sohn, der ein besseres Leben haben sollte. »Vielleicht hat er ja mehr Glück als ich und wird tatsächlich Zimmerer«, sagte er zu Dorkes.
»Und wie soll er heißen, wenn es ein Junge wird?« fragte
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