London
wurde klar, in welcher Gefahr der alte Mann und seine Freunde schwebten. »Warum tut ihr das alles?« wollte sie wissen.
Er erklärte ihr, daß Robert, wenn er denn König werden würde, ein riesiges Reich zu kontrollieren hätte. Und er war nicht der Mann, der sein Vater war. Die normannische Herrschaft würde schwach sein. Aber es gab ja noch Nachfahren der alten englischen Linie, ebenso wie König Haralds Familie. Barnikel erklärte ihr ausführlich, was vielleicht eintreten konnte, bis sie schließlich lächelnd den Kopf schüttelte.
»Du gibst wohl nie auf!«
»Ich bin zu alt, um aufzugeben. Wenn ein alter Mann aufgibt, stirbt er.«
»Fühlst du dich denn so alt?« fragte sie.
»Manchmal«, sagte er. »Aber nicht mit dir.« Und sie errötete, denn sie wußte, daß dies stimmte.
Im Kohlenbecken in der Mitte des Raumes glühte ein schwaches Feuer. Er stocherte ein wenig in den Kohlen herum und setzte sich dann auf einen großen Eichenstuhl daneben. Eine Weile sagten beide nichts und saßen einfach zufrieden nebeneinander. Nachdenklich nippte er an seinem Weinkelch.
Dieser Abend war wirklich sonderbar, dachte sie. Sie hatte alles getan, was sie tun konnte. Eigentlich sollte sie jetzt wieder gehen, doch sie wollte sich noch nicht verabschieden. Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm hinüber und legte den Kopf an seine Brust. Anfangs bewegte er sich nicht. Doch dann spürte sie, wie er mit seiner großen Hand ihr Haar zu streicheln begann. Überrascht stellte sie fest, wie sanft und tröstlich sich dies anfühlte. Sie dachte über ihr Leben nach. Henris kaltes Bild tauchte vor ihr auf. Sie dachte darüber nach, daß sie lieber diesen älteren Mann geheiratet hätte, selbst in seinem jetzigen Alter, mit seiner erstaunlichen Tapferkeit und seinem großen, warmen Herzen. Und plötzlich überkam sie der Wunsch, ihm ihre Zuneigung zu zeigen, und sie küßte ihn auf die Lippen. Sie spürte, wie er bebte. Sie küßte ihn noch einmal. »Wenn du so weitermachst…« flüsterte er.
»Nur zu!« sagte sie glücklich, auch wenn sie über sich selbst erstaunt war.
Es war lange her, seit Barnikel eine Frau geliebt hatte, und er hatte angenommen, daß es ihm nicht mehr leichtfallen würde. Doch als er nun aufstand und die junge Frau, die er anfangs als Tochter und dann als Frau geliebt hatte, in die Arme nahm, schienen alle Zweifel zu schwinden.
Und Hilda, die zum erstenmal die sanften Zärtlichkeiten eines älteren Mannes spürte, der sie langsam und liebevoll in Leidenschaft versetzte, fand eine Wärme, die sie stark berührte.
Sie blieben bis in die frühen Morgenstunden beieinander, bis sie sich schließlich zum Haus ihres Vaters zurückstahl und in das Zimmer schlich, in dem er schlief. Barnikels große Liebe hatte sich nach einem Dutzend Jahren endlich erfüllt.
Im Morgengrauen schlich sich Hilda, wie von Barnikel gewünscht, aus dem Haus ihres Vaters, um zwei Leuten eine Botschaft zu überbringen, Alfred und Osric. Sowohl auf ihrem Weg zu Barnikels Haus als auch auf ihrem Rückweg wurde sie wie üblich unbemerkt verfolgt.
Am nächsten Vormittag besuchte Ralph Silversleeves in Begleitung von sechs bewaffneten Männern Barnikel in seinem Lager in Billingsgate. Höflich informierte der Normanne den Dänen, daß sie eine Durchsuchung vorhatten, und Barnikel ließ sie gewähren, auch wenn er unmutig die Schultern zuckte. Drei der Männer begaben sich zu seinem Haus neben All Hallows.
Sie waren gründlich. Zwei Stunden lang bemühten sie sich, doch gegen Mittag gaben sie auf. Ein Mann kam von Alfreds Waffenschmiede. Auch dort hatten sie nichts gefunden.
Doch bei Ralph wollte das Gefühl nicht weichen, daß man ihn hinters Licht geführt hatte. Unten am Kai sagte er zu seinen Männern: »Hier irgendwo müssen die Waffen sein. Wir geben nicht auf.« Zum Arger der Bootsleute begann er, ihre Fracht zu durchsuchen, und auch vier weitere kleinere Lagerhäuser wurden gründlich durchstöbert. Sie gingen den ganzen East Cheap ab und untersuchten die Karren und Buden. Wildentschlossen pflügte sich Ralph mit hochrotem Gesicht seinen Weg nach Osten Richtung Tower.
Barnikel fand keine Ruhe. Er war den ganzen Nachmittag in seinem Haus gewesen. Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, und am Nachmittag hatte er sich sehr müde gefühlt. Doch nun hielt er es nicht länger in seinen vier Wänden aus. Er trat auf die Straße hinaus, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher