London
Wikingerschiff.
Der Zusammenbruch der großen dänischen Expedition im Jahr 1085, die vielleicht tatsächlich das Ende der normannischen Herrschaft in England bedeutet hätte, ist nach wie vor ein historisches Rätsel. Die riesige Flotte war aufgestellt, der neue König Knut bereit zum Aufbruch. Doch dann kam es zu einem Streit. Um was es genau ging, wußte niemand mit Sicherheit zu sagen, sicher war nur, daß Knut im darauffolgenden Jahr ermordet wurde. Ob die Auseinandersetzung rein innenpolitischer Natur war oder ob sie von Agenten Wilhelms von England auf kluge Weise geschürt worden war, wird man nie genau wissen. Doch die Flotte stach nicht in See.
Der Herbst verstrich, und der Tower wuchs.
Barnikel schöpfte den Verdacht, daß er betrogen worden war. Kurz nach Michaeli hatte er den Ertrag aus seinen neuen Ländereien in Deeping eingefordert, und der Verwalter hatte ihm eine lächerliche Summe geschickt. Als er eine Erklärung verlangte, hatte ihm der Mann eine Nachricht zukommen lassen, aus der er überhaupt nicht schlau wurde.
»Entweder ist der Bursche ein Dummkopf, oder er hält mich für einen«, fluchte der Däne, und wenn nicht gerade ein heftiger Schneefall eingesetzt hätte, wäre er sofort aufgebrochen, um nach dem Rechten zu sehen. Sobald der Schnee zu Beginn des darauffolgenden Frühjahrs wich, machte er sich auf den Weg.
Er brauchte mehrere Tage. Zuerst mußte er die dichten Wälder hinter London durchqueren, dann die riesige, flache Wildnis von Ostanglien. An einem angenehmen Märzmorgen kam er schließlich in dem Küstenweiler Deeping an.
Er wollte seinen Augen kaum trauen, denn der Weiler und seine Wiesen waren nicht von fruchtbaren Feldern, sondern auf drei Seiten von dem salzigen Wasser der Nordsee umgeben.
»Das Meer ist dieses Jahr schon wieder weiter hereingekommen«, erklärte ihm der Verwalter. »In zwei Jahren wird das Dorf verschwunden sein. So wie hier sieht es die nächsten fünf Küstenmeilen aus. Dort drüben ist Ihr Anwesen, Sir!« Er deutete nach Osten. »Das Meer hat es verschluckt.«
»Dieser verdammte Silversleeves hat mich betrogen!« brüllte Barnikel. Aber er fragte sich auch, warum das Meer anstieg.
Das tat es gar nicht, beziehungsweise nur sehr gering. Zwar stieg der Meeresspiegel in der nördlichen Welt aufgrund des Weichens der letzten Eiszeit tatsächlich leicht an, doch der Grund für diese Überflutung war ein anderes Phänomen, das es bereits seit längerem gab: England neigte sich zur Seite, wodurch die Küste von Ostanglien unterging und der Wasserstand in der Themsemündung anstieg.
Barnikel fluchte lauthals auf das Meer und noch mehr auf den gerissenen Silversleeves. Doch er hatte einen Vertrag unterzeichnet und konnte nun nichts mehr daran ändern. Er war über den Tisch gezogen worden.
Und er wäre noch verwirrter gewesen, wenn er den eigentlichen Grund für sein Elend gekannt hätte.
Nachdem Silversleeves damals Leofrics Schulden an Becket, dem Kaufmann aus Caen übernommen hatte, arbeitete er an dem langen Prozeß weiter, der es ihm ermöglichen sollte, den gesamten Handel seines alten Rivalen mit London zu kontrollieren. Erst im letzten Winter, als Becket sechs Schiffsladungen als Außenstände zu verzeichnen hatte, stellte der gewitzte Kanoniker von St. Paul's plötzlich alle Zahlungen ein und verweigerte sämtliche Lieferungen. »Dies sollte sie alle bis Ostern ruiniert haben«, erklärte er Henri. Und weil Barnikel ihn vor zwanzig Jahren einmal beleidigt hatte, war er in diesen Prozeß einfach mit einbezogen worden.
Klüger, ärmer und um Jahre gealtert kehrte Barnikel bedrückt nach London zurück mit dem bleibenden Gefühl, daß die Normannen gewonnen hatten. In seinem Haus in Billingsgate angekommen, legte er sich drei Wochen lang ins Bett und trank Unmengen von Ale. Erst als es Hilda nach drei vergeblichen Versuchen endlich gelang, sich Zugang zu ihm zu verschaffen und ihm eine stärkende Brühe einzuflößen, kam er allmählich wieder zu sich.
1086 unternahm Wilhelm der Eroberer von England einen der bemerkenswertesten Verwaltungsakte aller Zeiten, zum Teil auch deshalb, weil er aufgrund der Panik des vergangenen Jahres zusätzliche finanzielle Mittel benötigte. Es war ein erstaunliches Zeugnis nicht nur für seine Gründlichkeit, sondern vor allem für seine Vorherrschaft über seine Vasallen. Kein anderer König im mittelalterlichen Europa hätte sich je an ein derartiges Vorhaben herangewagt.
Weihnachten 1085 gab Wilhelm die
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