London
Bogenschützentruppe, der sich Carpenter gerne angeschlossen hätte. Ducket sah höchst interessiert zu, als Carpenter in Stellung ging, den Bogen in der Hand, den Arm ausgestreckt. Danach passierte erst einmal nichts. Carpenter stand einfach nur völlig reglos da. Als er sah, wie sich Ducket darüber wunderte, meinte er: »Zieh mal an meinem Arm!«
Ducket tat es. Zu seinem Erstaunen blieb der Arm starr. Er zog ein weiteres Mal daran – noch immer nichts. Der Junge war nicht in der Lage, die Stellung des Bogenschützen zu verändern. »Wie machst du das?« fragte er.
»Übung«, erwiderte Carpenter. »Und Geduld.«
Als Geoffrey ins »George« zurückkam, wartete dort Dame Barnikel auf ihn. »Ich wollte einmal ein Wörtchen mit dir reden«, meinte sie. »Wie, glaubst du wohl, bringen es Burschen wie du im Leben weiter?«
»Indem sie hart arbeiten«, schlug er vor, entlockte ihr damit jedoch nur ein Schnauben.
»Es wird Zeit, daß du erwachsen wirst. Sie heiraten natürlich die Tochter des Meisters. Sobald du im richtigen Bett landest, hast du es geschafft.«
Ducket war sich nicht ganz sicher, was sie ihm damit sagen wollte, aber ihre nächsten Worte beseitigten seine Zweifel. »Glaubst du denn, ich will das ›George‹ an den mondgesichtigen, kleinen Carpenter weitergeben? Glaubst du, daß ich ihm meine Tochter geben will?«
»Ich glaube, daß sie ihn gern hat«, wandte er ein.
»Mach dir darum keine Sorgen!« befahl sie ihm. »Nimm ihm das Mädchen weg! Laß dich nicht von ihr abwimmeln, wenn du weißt, was gut für dich ist!« Damit stampfte sie davon, und Ducket wußte nicht, was er nun tun sollte.
Bull war richtig stolz auf seine Tochter. Mit ihrem lockigen Haar und ihren sanften, klaren Augen war Tiffany so ein hübsches kleines Ding, daß sie ihn fast den Schmerz vergessen ließ, keinen Sohn zu haben. Sie war elf, als sie erfuhr, daß es an der Zeit war, an einen Gatten zu denken. Es geschah am Geburtstag ihres Vaters im Juni, und bei dieser Gelegenheit trug sie zum erstenmal Erwachsenenkleider.
Ihre stille Mutter wurde richtig lebhaft, als sie sich darum kümmerte. Zuerst steckte sie das Mädchen in ein seidenes Untergewand mit enganliegenden Ärmeln, die vom Ellbogen bis zu den Handgelenken mit kleinen, mit Seide überzogenen Knöpfen versehen waren. Darüber kam ein besticktes, blaugoldenes Kleid. Sodann scheitelte sie Tiffanys dunkles Haar in der Mitte und frisierte es in zwei sehr straffe Knoten, die kreisförmig über den Ohren festgesteckt wurden. »Jetzt siehst du aus wie eine junge Dame«, sagte sie stolz. Und obwohl Tiffanys Brüste noch nicht recht entwickelt waren und das Mädchen auch noch nicht sehr groß war, lächelte es doch erfreut, als es sich im silbernen Handspiegel seiner Mutter begutachtete. Es kam sich tatsächlich sehr weiblich vor.
Im Haus war eine große Gesellschaft zusammengekommen. Mehrere bekannte Mercer waren da, der junge Whittington und sogar Ducket, weil Tiffany es so gewollt hatte. Chaucer hatte einen Termin am Gericht und konnte deshalb nicht kommen, aber er hatte schon am Morgen hereingeschaut und Bull mit einem Geschenk erfreut.
Außerdem war da noch ein Paar, das Tiffany nicht kannte – ein junger Mann und eine Nonne. Schwester Olive kam aus einem kleinen, doch recht beliebten Kloster, dem St.-Helen'sKonvent, das an der nördlichen Stadtmauer lag und von den unverheirateten Töchtern aus wohlhabenden Kaufmannsfamilien bevorzugt wurde. Sie hatte ein blasses Gesicht und eine lange Nase; wenn sie lächelte, dann nur sehr züchtig; ihre großen, sanften Augen waren meist bescheiden gesenkt. Begleitet wurde sie von ihrem Cousin, einem blassen, langnasigen, ernsten jungen Mann namens Benedict Silversleeves. Beide waren entfernt mit Tiffanys Mutter verwandt.
Tiffanys anfängliche Befangenheit ob ihrer erwachsenen Erscheinung legte sich rasch. Whittington machte ihr ein Kompliment, Ducket warf bewundernde Blicke auf sie, ein paar Kaufleute und ihre Frauen sprachen mit ihr. Und auch Schwester Olive trat auf sie zu und sagte ihr, daß ihr Kleid ihr wirklich ausgezeichnet stehe. »Du solltest unbedingt meinen Cousin Benedict kennenlernen«, sagte die Nonne und führte das Mädchen quer durch den Raum. Tiffany errötete; es brachte sie einigermaßen aus der Fassung, daß der junge Mann offenbar sehr bedeutend war. Eine alteingesessene Londoner Familie, ein Student der Rechtswissenschaften, der es sicher noch weit bringen würde – die Nonne hatte ihr diese wichtigen
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