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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gewissenhaft. Er wog sämtliche Waren sorgfältig auf seiner kleinen Waage, die er in seinem Verkaufsstand aufbewahrte. »Ich mußte noch nie zum PiePowder-Court«, meinte er. Vor diesem kleinen Gericht wurden die täglichen Marktbeschwerden verhandelt.
    Einmal wurde einer der Burschen auf dem Markt beschuldigt, alten Fisch verkauft zu haben. Ducket und sein Herr sahen zu, wie der Bursche auf einem Pferd über den Cheap geführt wurde, wobei zwei Büttel einen Korb mit Fischen hinter ihm hertrugen. Am Ende von Poultry, gegenüber von Cornhill, war der Pranger. Ein schweres, hölzernes Joch wurde um den Nacken des Mannes gelegt, dann wurde der Fisch unter seiner Nase verbrannt, und er mußte eine ganze Stunde unbeweglich in dieser Vorrichtung verweilen, bis man ihn wieder freiließ. »So schlimm scheint es ja auch wieder nicht zu sein«, meinte Ducket. »Denk an die Schande«, erwiderte Fleming. »Wenn sie mir so etwas angetan hätten, wäre ich gestorben.«
    Ducket entdeckte bald noch eine weitere Merkwürdigkeit bei seinem Herrn. Fleming selbst besaß zwar kein einziges Buch und hätte ohnehin mit dem Lateinischen oder dem Französischen kämpfen müssen, in dem die Bücher verfaßt waren, aber jegliche Form der Belesenheit begeisterte ihn, und er suchte gern die Gesellschaft gebildeter Leute. »Zeit, die man mit jemandem verbringt, der etwas weiß, ist keine vergeudete Zeit«, sagte er gern. Und wenn Ducket seinen Paten Chaucer erwähnte, erklärte er: »Das ist ein ganz besonderer Mann. Triff dich mit ihm, wann immer du kannst!«
    Das »George« war eines von mehr als einem Dutzend Gasthäusern auf der Hauptstraße von Southwark. Es lag auf der östlichen Seite in der Nähe des Tabard. Trotz der Nähe zu den Bordellen des Bischofs an der Bankside war das »George« wie auch die anderen Wirtshäuser ein geachtetes Haus, in dem die Leute auf ihrem Weg nach London oder auch die Pilger, die auf der alten Straße durch Kent nach Rochester oder Canterbury wollten, einkehrten. Hinter der Gaststube befand sich eine kleine Brauerei. Im Inneren gab es einen großen Raum, wo die ärmeren Reisenden auch übernachteten; im dreistöckigen Hinterhaus lagen die Kammern für die Wohlhabenderen. Abends war hier immer viel los, und im großen Raum waren viele Tische aufgestellt.
    Dame Barnikel führte ein straffes Regiment im »George«. Morgens begab sie sich in die Brauerei, wo sie ihr eigenes Bier braute; abends saß sie an der Theke, wo Bier und Wein ausgeschenkt wurden. Hinter der Theke – jedoch stets in ihrer Reichweite – stand ein schwerer Eichenprügel, falls es Ärger geben sollte. Amy half manchmal dabei, die Gäste zu bedienen, doch Fleming war hier nicht zugelassen. »Er hat sein Geschäft, ich meines«, pflegte Dame Barnikel zu erklären.
    Manchmal durfte ihr der junge Ducket zuschauen, wenn sie Bier braute. Sie erstand Malz – getrocknete Gerste, erklärte sie Geoffrey – unten an den Kais und mahlte es im Dachboden der kleinen Brauerei. Das zerkleinerte Malz fiel in ein großes Faß, in das sie aus einem riesigen Kupferkessel Wasser goß. Es mußte eine Weile gären, bevor dieses Gebräu in ein anderes Faß gegossen wurde. Dann kam Dame Barnikel mit einem Holzeimer voll Hefe an, dem eigentlichen Gärmittel, wodurch Schaum und – welch ein Wunder – weitere Hefe entstanden. »Die verkaufen wir an die Bäcker«, erklärte sie Geoffrey. Dame Barnikels Gerstenbier war stadtbekannt.
    Der junge Ducket mochte die stille Tochter seines Meisters, aber in den ersten zwei Jahren sahen sie sich kaum. Er war ja schließlich nur ein einfacher Lehrling, sie ein schüchternes, elfjähriges Mädchen. Doch im letzten Jahr, seit Carpenter in ihr Leben getreten war, war sie selbstbewußter geworden, und zwischen den dreien entwickelte sich eine lockere Freundschaft; oft gingen sie zusammen nach Clapham oder Battersea oder an warmen Sommernachmittagen zum Schwimmen an den Fluß.
    An einem sonnigen Tag – kurz, nachdem das Parlament zu Ende gegangen war – begleitete der junge Ducket Amy und Carpenter zu den Finsbury Fields im Norden der Stadt, gleich bei der Stadtmauer, wo die Londoner sich im Bogenschießen übten.
    Zwar tauchten seit neuestem die ersten, noch sehr einfachen Feuerwaffen auf, doch die Hauptwaffen der Engländer waren noch immer die Langbögen, die aus bestem englischen Eibenholz gefertigt waren und bei Crecy und Poitiers ihre verheerende Wirkung gezeigt hatten. Die Londoner hatten eine stattliche

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