Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
hätten sie alle gern geheiratet.
    Kurz nach Bulls Geburtstag starb Eduard III. und der zehnjährige Sohn des Schwarzen Prinzen, Richard, wurde zum König ernannt, sein Onkel Johann von Gent zu seinem getreuen Vormund.
    »Er ist ungefähr in unserem Alter«, sagten die Mädchen. Der junge Richard mit seinem klargeschnittenen Gesicht und seinem trotz seiner Jugend sehr würdevollen Gebaren war zweifellos ein erfreulicher Anblick. Die Mädchen hatten ihn alle schon einmal gesehen. Aber wie sollten sie ihn je kennenlernen? Könige heirateten keine Kaufmannstöchter, auch wenn deren Väter stattliche Häuser auf der London Bridge hatten.
    Ducket hielt sein Versprechen, das er Tiffany gegeben hatte, und besuchte sie regelmäßig. An einem klaren Oktobertag gingen sie gemeinsam zu Chaucer, der inzwischen eine neue Stellung hatte, die ihn in London festhielt. Er war nun Kontrolleur der Zölle auf Wolle, Felle und Leder im Londoner Hafen.
    Das Londoner Zollhaus war ein großes, langgestrecktes Gebäude auf dem Pier zwischen Billingsgate und dem Tower. Laut der königlichen Bestimmungen, die den Wollexport regelten, durften alle Waren nur bestimmte Häfen durchlaufen. Der Londoner Frachthafen war einer der größten. Jeden Tag kamen Hunderte von Säcken mit Wolle an, um hier geprüft, gewogen und bezahlt zu werden. Wenn der Zoll bezahlt war, wurden sie mit dem königlichen Siegel versehen, was Chaucer persönlich überwachte, bevor sie auf die Schiffe verladen und flußabwärts transportiert wurden. Ducket sah gern dabei zu, wenn die Männer die Säcke zum Waagebalken schafften, und Chaucer zeigte ihm auch die zahllosen Pergamente, auf denen er und seine Helfer die Daten festhielten, und die Truhen, in denen das Geld verwahrt wurde. Auch wenn inzwischen immer mehr Tuch hergestellt wurde, faßten die englische Wirtschaft und letztlich auch der gesamte Londoner Handel nach wie vor hauptsächlich auf der umfangreichen Ausfuhr von Rohwolle auf das europäische Festland.
    Chaucer wollte gerade heimgehen, als Tiffany und Ducket ins Zollamt kamen, und so begleiteten sie ihn. Chaucers Wohnung, die mit seinem Amt einherging, befand sich neben dem Aldgate an der östlichen Stadtmauer und umfaßte auch noch einen großen Raum direkt über dem Tor, von dem aus man einen phantastischen Blick auf die offenen Felder und die alte Römerstraße nach Ostanglien hatte. Seine hübsche, dunkelhaarige junge Frau kümmerte sich gerade um ihr Baby, und so führte Chaucer seinen Besuch in ein großes Zimmer im Obergeschoß. Dort waren mehrere Dutzend Bücher, auf verschiedenen Tischen gestapelt, einige davon in Leder gebunden, andere nicht, einige in hübscher Kalligraphie geschrieben, andere in ungelenker Handschrift. Richtig unordentlich wirkten jedoch nicht die Bücher, sondern die Pergamentseiten, die überall herumlagen und meist nur halbbeschrieben und mit Verbesserungen übersät waren.
    »Hierher ziehe ich mich gern zurück«, erklärte Chaucer entschuldigend. »Hier lese und schreibe ich jeden Abend.«
    Als die beiden sich auf ihren Heimweg machten – sie nahmen die alte Straße vor dem Aldgate – fiel Tiffany wieder einmal das Thema Ehemann ein, und plötzlich meinte sie: »Weißt du, ich bin noch nie geküßt worden. Du weißt doch sicher, wie man das macht.« Er wußte es. »Dann tu es!« forderte sie ihn auf.
    Am Südende der Brücke stand Benedict Silversleeves und wartete auf Ducket. Ruhig und würdevoll erklärte er ihm, daß er zufällig an diesem Nachmittag durch Aldgate hindurchspaziert sei. »Ich denke also, du weißt, was ich da gesehen habe.«
    Ducket errötete. Er hoffe, fuhr der Jurist fort, daß Ducket nicht versuche, ein junges Mädchen auszunutzen. Was sollte Ducket darauf erwidern? Daß sie ihn dazu aufgefordert hatte? Das war einfach unter seiner Würde. Dennoch schämte er sich und beschloß, daß es wohl besser sei, Tiffany eine Weile nicht mehr zu sehen.
    Mehr als ein Jahr war seit dem Gespräch mit seinem reichen Vetter verstrichen, aber James Bull ließ sich nicht entmutigen. »Das Mädchen ist noch sehr jung«, erklärte er seinen Eltern. Er hoffte noch immer auf eine Einladung in das Haus des Kaufmanns. Gerade dachte er wieder einmal daran, als er an einem feuchten Novembernachmittag durch Ludgate hindurch in die Stadt kam. Da fiel ihm ein hübsches junges Mädchen auf, das mit einem Korb am Arm ihres Weges eilte. Es war Tiffany.
    Er zögerte kurz, dann trat er ihr in den Weg. »Ich bin dein Vetter James«,

Weitere Kostenlose Bücher