London
ihrem Stamm gefangengenommen worden war und man ihm beinahe den Schädel eingeschlagen hätte. Dieses Indianermädchen, noch ein Kind, hatte den eigenen Kopf angeboten, um ihm das Leben zu retten. Mit Smith hatte es keine Romanze gegeben; sie war noch zu jung gewesen. Doch die auf diese Episode folgende Freundschaft mit den Siedlern hatte sie mit Rolfe zusammengebracht, und nun wurde sie in England als Heldin willkommen geheißen.
Für Julius sah sie jedoch kaum wie eine Heldin aus. Während sie im Saal umherging und hier und da ein paar Worte sprach, konnte man schwer entscheiden, ob ihre stille Anmut auf Scheu oder Hochmut zurückzuführen war. Einen Augenblick später sah Julius eine ausgestreckte Hand und ein Paar mandelförmiger brauner Augen, die ihn anstarrten. Er wußte, daß sie über zwanzig war, doch sie hätte fünfzehn sein können. Ihr Erscheinen war so sorgfältig inszeniert wie ein Theaterstück. Nachdem sie die Runde im Saal gemacht hatte, wurde sie hinausgeführt, gefolgt von der gesamten Gesellschaft. Ein Aufgebot von Dienern, alle in der Livree der Seiden- und Textilhändler, hob sie draußen auf der Straße auf eine offene Sänfte, die sie auf den Schultern trugen, so daß die Menschenmenge sie sehen konnte. Der Zug bewegte sich westwärts durch Cheapside, während die Indianerin den Menschen zuwinkte. Dann war sie plötzlich fort. Die Sänfte wurde abrupt gesenkt, Pocahontas stieg in die geschlossene Kutsche, die an der Honey Lane wartete, das Gefährt rumpelte davon und verschwand in der Milk Street. Alles war so geschickt gemacht, daß die Aufmerksamkeit der Menschenmassen noch nicht nachgelassen hatte, sondern nach einem neuen Ziel suchte. Wie auf ein Stichwort hörte man von einem Podium vor St. Mary-le-Bow eine tragende, aber einschmeichelnde Stimme, zu der sich die Leute nun umwandten. »Seht die Magd des Herrn! Heute, geliebte Brüder, haben wir ein Zeichen erblickt.« Es war Meredith, der zu predigen begann.
Tatsächlich befand sich die Virginiagesellschaft in Nöten. Nur ein paar Schiffe mit Siedlern waren ausgelaufen; es gab Gerüchte über harte Bedingungen, Indianerüberfälle, Hungersnöte, und die Gesellschaft machte Verluste. Sie brauchte Schützenhilfe. Ob die Geschichte mit Pocahontas und Captain Smith also nun strikt der Wahrheit entsprach oder ob die Virginiagesellschaft sie geschickt erfunden hatte – der Besuch der zum Christentum bekehrten Indianerprinzessin und ihres englischen Gatten war ein Geschenk des Himmels, das Sir Jakob und seine Freunde zur größtmöglichen Wirkung ausnützten.
Es war üblich, daß man einen Prediger bezahlte, der für eine gute Sache werben sollte; die Virginiagesellschaft beschäftigte oft Kaplane. Doch heute, mit einer Menschenmenge von fünfhundert Leuten vor sich, hatte Meredith eine große Chance, und er vertat sie nicht. Es war eine zweifache Botschaft, die er vorbereitet hatte. Der erste Teil bezog sich auf Pocahontas; damit sollte die Neugier der Menge geweckt werden. Die zweite Botschaft, der wahre Zweck der Predigt, war eine Ermunterung, sich in Virginia anzusiedeln. Edmund steigerte sich zu einem leidenschaftlichen rhetorischen Höhepunkt und schloß: »Komm nun und ergreife Besitz von deiner Braut, Virginia, deinem neu entdeckten Land.« Das war genau die Art von Predigt, die der Virginiagesellschaft gefiel. In dem Augenblick, als die Rede endete, mischten sich Angestellte der Gesellschaft rasch unter die Leute und verteilten Stapel von Handzetteln, die potentielle Siedler oder Investoren informierten, wie man sich an die Zentrale der Gesellschaft in der Philpot Lane wenden konnte.
Julius, der bei seinem Vater stand, konnte sehen, daß Sir Jakob hochzufrieden war, und freute sich, denn er mochte Meredith. Nachdem sie ihm gratuliert hatten und Sir Jakob geschäftlich anderswohin gehen mußte, war Julius zu aufgeregt, um direkt nach Hause zu gehen.
Als er schließlich heimkam, hatte er eine Neuigkeit für Sir Jakob. »Weißt du, Vater, ich habe etwas ganz Seltsames gesehen.«
Julius war nicht mehr oft mit Martha Carpenter zusammengekommen, seit sie das Kirchspiel verlassen hatte, um Dogget zu heiraten. Hin und wieder besuchte sie ihren Bruder und seine Familie, doch das war alles, und über ihre neue Familie in Southwark wußte Julius nichts. Daher war er neugierig gewesen, als er die kleine Gruppe in der Watling Street sah.
Auch sie waren gekommen, um Pocahontas zu sehen, und waren noch bei der Predigt geblieben: Dogget, fünf
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