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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Mauern nicht nach außen drückt«, hatte Wren ihm eines Tages erklärt. »Das äußere Dach hätte aus Kupfer sein sollen, aber man hat mir Blei aufgezwungen. Das hat tausend Pfund gespart, aber der Last, die das Gebäude zu tragen hat, sechshundert Tonnen hinzugefügt.«
    Auf der Innen- und Außenseite der unteren Teile der Kuppel waren Galerien; die Mutigsten konnten sogar über eine Treppe bis zur Spitze der Laterne steigen. Von der Galerie aus hatte man einen herrlichen Ausblick, und dank Wren hatte O Be Joyful die Erlaubnis, heute hier hinaufzusteigen. Stolz führte er seine Enkelkinder zu dem großen westlichen Säulengang.
    Gideon und Martha – seine liebsten von den sieben Enkelkindern. Wie stolz wären ihre Namensgeber gewesen, wenn sie ihre feierlichen Gesichter und ernsten Augen hätten sehen können. Sie waren streng puritanisch erzogen worden, denn nach dem Toleranzedikt von 1688 hatten die Nonkonformisten, wie nun alle Protestanten außerhalb der anglikanischen Kirche genannt wurden, einen Aufschwung erlebt. Über zweitausend Bethäuser gab es in England, und London war natürlich das wichtigste Zentrum. Die Puritaner kleideten sich nur noch selten in Schwarz oder trugen hohe Hüte, und die strengen Moralgesetze des Commonwealth galten nicht mehr, aber jedes Kind wußte, daß zu reich geschmückte Kleidung eine Sünde war, daß weltliche Vergnügungen verderblich wirkten und daß die gesamte Gemeinde ein mißbilligendes Auge auf sie hatte, wenn sie Unzucht begingen, tranken oder spielten. Die Puritaner waren zwar nicht an der Macht, aber ihr Denken war in England immer noch von großem Einfluß, und die Nonkonformisten, die meinten, sie müßten im öffentlichen Leben eine Rolle spielen, gingen der Form halber in einer anglikanischen Kirche zum Abendmahl, vielleicht sogar als Geistliche der Kirche Englands.
    In der Familie Carpenter gab es keine solchen Kompromisse. Da die Erben Gideons und Marthas nun nicht mehr gezwungen waren, die anglikanische Kirche mit ihren Bischöfen zu besuchen, ließen sie es auch sein. Weder der neunjährige Gideon noch die elfjährige Martha waren je in einer anglikanischen Kirche gewesen. Und diese papistisch aussehende Kathedrale – unsicher blickten sie auf ihren Großvater.
    Zu seinem Erstaunen hatte O Be Joyful im letzten Jahrzehnt festgestellt, daß er in seiner Familie zu einer verehrten Gestalt geworden war. Obwohl er nur zu gut wußte, wie unverdient das war, meinte er, um der nächsten Generation willen sollte er zumindest versuchen, dieser Rolle gerecht zu werden. Und so tat er sein Bestes, wenn seine Enkel ihn baten: »Erzähl uns, wie Gideon mit Cromwell gegen den König gekämpft hat«, oder fragten: »Ist die alte Martha wirklich auf der Ma yflower gefahren?« Er hielt sogar die alte Lüge aufrecht, daß er alles getan habe, um Martha aus dem großen Feuer zu retten.
    Da seine erwachsenen Kinder erwarteten, daß er ihnen bei der Unterweisung seiner Enkel half, mußte er selbst wieder lesen lernen. Es war nicht leicht gewesen, aber er hatte es geschafft, und seit Martha fünf war, las er ihr jeden Tag aus der Bibel vor. Und er las noch aus einem anderen Buch. Geschrieben von einem puritanischen Prediger in den letzten Jahren der Herrschaft König Karls II. erzählte es in allegorischer Form die Geschichte eines Christen, der sich, plötzlich überwältigt vom Gefühl seiner eigenen Sünde und dem Gedanken an den baldigen Tod, auf eine Reise begibt. Eine sehr puritanische Pilgerfahrt; keine Heiligen, keine Kirchenautorität, nur der Glaube und die Bibel führen den armen Christian. Er verfällt allen möglichen Irrungen, von denen er wieder errettet werden muß. Des Pilgers Reise von John Bunyan, die O Be Joyful zu lesen und zu lieben gelernt hatte, war bei allem Puritanismus sehr warm und menschlich.
    O Be Joyful nahm die Kinder bei der Hand und führte sie in die anglikanische Kathedrale. Er hatte diese große Kirche tatsächlich zu lieben begonnen. Sein Schwur, niemals unter dieser papistischen Kuppel zu arbeiten, schien nun nicht mehr nötig, da es von Rom nichts mehr zu fürchten gab. Auf Wilhelm und Maria war vor einigen Jahren Marias protestantische Schwester Anna gefolgt. Nach Anna würde die Thronfolge auf ihre ebenfalls protestantischen Vettern aus dem deutschen Hause Hannover übergehen. Das englische Heer mit seinen holländischen Verbündeten, kommandiert von dem großen John Churchill, nun Herzog von Marlborough, hatte die Streitkräfte Ludwigs

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