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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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vernachlässigt hatte. »Wenn man für einen Meister wie Gibbons arbeitet«, erwiderte er matt, »dann muß man machen, was er befiehlt.« Aber er sah, daß beide verwirrt waren.
    Sie verließen den Chor und traten wieder unter die Hauptvierung. Als sie unter der großen Kuppel entlangschritten, hatte der kleine Gideon eine Eingebung. In Verlegenheit gebracht durch den unerwarteten Sündenfall seines Großvaters, wollte er ihm eine Chance zur Wiedergutmachung geben. Er sah zu ihm auf und bat eifrig: »Erzähl uns, Großvater, wie du versucht hast, die alte Martha aus dem Feuer zu retten.«
    Carpenter verstand genau, warum der Junge das gefragt hatte. Er wußte auch, daß seine Enkel an ihn glauben wollten, aber welchen Wert hatte es, wenn ihr Glaube auf einen Betrug gegründet war? »Die Wahrheit ist, Gideon«, erwiderte er, »daß ich gar nicht richtig versucht habe, sie zu retten. Ich habe sie da oben gesehen, aber ich habe den Mut verloren.«
    »Du meinst, du hast sie verbrennen lassen?« Der Junge starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.
    »Ich habe einmal versucht, die Treppe hinaufzukommen, aber… ja. Ich habe sie verbrennen lassen. Ich hatte Angst, Gideon. Seit vierzig Jahren habe ich das für mich behalten. Aber es ist die Wahrheit.« Nach einem Blick auf das verletzte Gesicht des Jungen bat er sie, ihm zur Treppe auf die Kuppel zu folgen.
    Es war ein langer Aufstieg über die breite Wendeltreppe in die Kuppel, denn die Innengalerie von St. Paul's befindet sich mehr als dreißig Meter über dem Boden der Kathedrale. O Be Joyful hatte Zeit nachzudenken, als er voranging. Hatte er ihren Respekt oder sogar ihre Liebe verloren? Ihre Gedanken schienen zentnerschwer auf seinen Schultern zu lasten.
    Die Jahre, in denen er ein bescheidenes Glück in seiner Arbeit gefunden hatte, waren plötzlich dahin, erneut blieb ihm nur die Erinnerung, daß er ein Feigling war. Und seine Enkel wußten es nun. Er fühlte sich unendlich müde, als er in die Galerie trat, und nachdem er den Kindern bedeutet hatte, sie sollten sich umsehen, setzte er sich.
    Die innere Galerie von St. Paul's kann ein wenig beängstigend wirken. Ein Besucher, der über die Brüstung späht, stellt plötzlich fest, daß er frei im Raum hängt, unter sich nur ehrfurchtgebietende Leere. Blickt er auf die gewaltige Kuppel, die sich weitere dreißig Meter über ihm erhebt, hat er das Gefühl, daß ihn plötzlich ein seltsamer Sog hinauf zu dieser Rundung zieht, als müsse er jeden Augenblick über den gähnenden Abgrund fliegen.
    Carpenter sah, wie die Kinder abwechselnd an den Rand traten und sich wieder zur Sicherheit der Mauer zurückzogen. Absolute Stille herrschte, und er schloß die Augen. Doch dann hörte er ihre Stimmen. Er hatte vergessen, ihnen von einem weiteren Wunder in St. Paul's zu erzählen. Die Mauer der Galerie unter der Kuppel ist so perfekt gerundet, daß selbst das leiseste Geräusch, das von der gekrümmten Oberfläche widerhallt, überall gehört wird. Die Flüstergalerie wird sie deshalb genannt. Mit geschlossenen Augen hörte Carpenter nun das Gewisper der Kinder unter der Kuppel.
    »Hat er Martha wirklich sterben lassen?« Gideons Stimme.
    »Er hat es gesagt. Er hatte nicht genug Mut. Er hatte nicht genug Glauben, Gideon.«
    »Aber es war mutig von ihm, es uns zu sagen, meinst du nicht?«
    »Wir dürfen nicht lügen.«
    »Er hatte nur Angst. Martha, glaubst du, er kommt trotzdem in den Himmel?«
    Das Mädchen überlegte. »Die Auserwählten kommen in den Himmel«, erwiderte sie schließlich, »aber wir wissen nicht, wer auserwählt ist, Gideon.«
    »Martha, wenn er in die Hölle geschickt wird, gehe ich hinunter und rette ihn.«
    »Das kannst du nicht.«
    »Aber wir können ihn immer noch liebhaben, nicht wahr?«
    »Ich glaube schon.«
    Die äußere Galerie von St. Paul's ist höher als die Flüstergalerie, daher mußte Carpenter die Kinder noch ein Stück weiter hinaufführen, bevor sie auf die Empore gelangten, die um den unteren Teil der gewaltigen Bleikuppel herumläuft. Sie traten ins strahlende Tageslicht. Der Himmel war kristallklar, und eine leise Brise kräuselte das Wasser der Themse, so daß es glitzerte. Um sie herum erstreckte sich das Panorama von London.
    Sie blickten nach Norden auf die neu aufgebaute Guildhall, die neuen Straßen, vorbei am alten Shoreditch und an den Wäldern Islingtons zu den grünen Hügeln von Hampstead und Highgate; nach Osten über den anderen Hügel der Stadt, über die Zinnen des Towers, die

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