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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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XIV. von Frankreich vernichtend geschlagen, so daß der nördliche Teil Europas fest in Händen der Protestanten war.
    Auch die große Kuppel des Gebäudes schien nicht mehr so unheilvoll. Dank der hohen Glasfenster war der Innenraum der Kathedrale hell und luftig. St. Paul's, so schien es Carpenter nun, war ein großer englischer Kompromiß – protestantischer Geist in römischer Form –, im Grunde wie die anglikanische Kirche selbst.
    Während O Be Joyful langsam das mächtige Kirchenschiff entlangschritt, sah er, daß die beiden Kinder von Ehrfurcht ergriffen waren. Plötzlich wurde die Stille zweimal durch ein lautes Gepolter gestört, das in der Hauptvierung vor ihnen widerhallte, gefolgt von einem ungeduldigen Schnauben des Küsters. Es stellte sich heraus, daß es Meredith war.
    »Den ganzen Vormittag ist er schon da oben«, sagte der Küster mit einer Stimme, die ahnen ließ, daß er an Meredith' Verstand zweifelte. Als sie in den Bereich unter der Kuppel traten, sahen sie den wissenschaftsbegeisterten Geistlichen oben in der Galerie. Er winkte Carpenter freundlich zu und tauchte ein paar Minuten später unten bei ihnen auf.
    »Ich habe es nur ausprobiert«, erklärte er, während Carpenter und die Kinder ihm halfen, die verschiedenen Gegenstände aufzusammeln, die er von oben hatte herunterfallen lassen. »Versteht Ihr, diese Kuppel ist der geeignetste Ort, um Newtons Gravitationsgesetz zu testen. Noch viel besser als das Monument. Die Royal Society hat vor, hier bald eine Reihe von Experimenten durchzuführen.« Mit einem weiteren fröhlichen Winken verschwand er zum Westportal und ließ O Be Joyful wieder mit den Kindern allein.
    Er hatte ihnen viel zu zeigen, etwa den Stein mit der Aufschrift RESURGAM, die er ihnen erklären mußte. Dann führte er sie in den Chor. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er an vielen Projekten mitgearbeitet, die ihm besondere Freude machten. Er war stolz auf die Decke, die er für den neuen Speisesaal von Myddeltons New River Company geschnitzt hatte; gerne hatte er an dem schönen neuen Flügel von Hampton Court und an Wrens prachtvollem Palais Chelsea Hospital mitgewirkt. Aber nichts konnte sich mit dem wundervollen Schnitzwerk des Chorgestühls von St. Paul's messen. Hier gab es nicht nur die langen dunklen Stuhlreihen für den Klerus und die Chorknaben zu sehen, sondern auch das massive Orgelgehäuse. Wren hatte den Umriß entworfen und Modelle erstellen lassen, doch als es um die Ausschmückung des Ganzen ging, hatte er sich an Grinling Gibbons gewandt.
    Das Ergebnis war atemberaubend. Innerhalb eines Rahmens aus einfachen klassischen Formen – rechteckige Paneele, Pilaster, Friese und Nischen – entfaltete sich eine üppige Pracht von Schnitzereien: Blätterwerk und rankende Weinreben, Blumen, Posaunen, Cherubim, Fruchtgirlanden, die aus Gesimsen und Kapitellen, Täfelungen und Ziergiebeln, Säulen und Konsolen quollen. Tonnen von Eichenholz waren verarbeitet worden, eine ungeheure Kunstfertigkeit steckte in dem Schnitzwerk. Die Kosten waren gewaltig gewesen, so hoch, daß nicht einmal die Kohlesteuer die laufenden Ausgaben decken konnte. Investoren, darunter große Meister wie Gibbons selbst, hatten Geld für das Projekt geliehen, das in künftigen Jahren mit Zinsen zurückgezahlt werden sollte.
    O Be Joyful war stolz, als er die Kinder an dem glänzenden Gestühl entlangführte und ihnen alles erklärte. Er zeigte ihnen den Stuhl, auf dem der Mayor saß, dann das Orgelgehäuse und schließlich das Meisterwerk schlechthin, den Bischofsthron, der von einem prachtvollen Baldachin mit geschnitzten Girlanden überkrönt war. »Diesen Thron haben Mr. Gibbons und ich gemeinsam geschnitzt«, erklärte er und deutete auf das vollendete Kunstwerk über ihnen. »Hier die Mitra, und hier weiter unten ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt, ein altes christliches Symbol der Nächstenliebe.« Es war das beste Werk seines Lebens.
    Die beiden Kinder starrten schweigend darauf. »Es ist sehr schön, Großvater«, sagte Martha schließlich. »Es ist« – sie suchte nach einem Wort – »sehr reich verziert.« Er hörte den Zweifel in ihrer Stimme. Doch nun zeigte Gideon auf die Mitra.
    »Wer sitzt hier, Großvater?« fragte er.
    »Der Bischof«, antwortete Carpenter.
    »Du hast einen Thron für einen Bischof gemacht? Hast du dich nicht weigern können?«
    Er hatte sie enttäuscht. Was war er für ein Narr, daß er in seinem Stolz auf seine Kunst das Wesentliche

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