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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Vorstadt Spitalfields, wo die hugenottischen Weber wohnten, vorbei am Wald der Schiffsmasten im Pool von London, zu der langgestreckten östlichen Mündung und dem offenen Meer dahinter. Im Süden sahen sie den Fluß und die riesigen, seltsamen Umrisse der London Bridge mit ihren hohen mittelalterlichen Giebelhäusern und das unübersichtliche Southwark auf dem gegenüberliegenden Ufer. Der prachtvollste Anblick bot sich jedoch im Westen.
    Die Barken kamen zurück. An der Spitze die große vergoldete Barke des Mayors; dann die prunkvollen Schiffe der Livreegesellschaften – überkrönt von flatternden Sonnensegeln, eine Farbenpracht in Rot und Blau und Silber, mit fröhlichen Streifen und reich geschmückt. Die livrierten Fährmänner ruderten in vollkommenem Einklang der Bewegung, und ihnen folgte eine große Zahl kleinerer Boote, alle festlich herausgeputzt; die vergoldete Prozession nahm den ganzen Fluß ein. Wenn der Lord-Mayor von London in vollem Ornat den Fluß herauffuhr, konnten sich in ganz Europa höchstens die aufwendigen Wasserumzüge in Venedig damit messen. Die beiden Kinder starrten voller Staunen, und O Be Joyful lächelte. Natürlich hatten die Kinder recht. Er war nicht für das ewige Leben bestimmt.
    Doch als er so auf seine Enkel blickte, schien es ihm, daß es nicht mehr so viel ausmachte. Sein eigenes Leben, selbst das Schicksal seiner unsterblichen Seele waren nicht mehr von Bedeutung. Gideon und Martha waren gestorben und doch in gewisser Weise wiedergekehrt. Der kleine Gideon, reiner und gottesfürchtiger als er, der tapfere kleine Junge, der bereit war, dem Höllenfeuer zu trotzen, um seinen zaudernden Großvater zu retten, würde dort weitermachen, wo er so elend versagt hatte. Vielleicht würden diese Kinder eines Tages sogar die leuchtende Stadt auf einem Hügel erbauen.
    Tief unter ihnen näherten sich die Barken Blackfriars'. Noch wenige Augenblicke, und der Lord-Mayor würde an Land gehen. Nun begannen die Glocken zu läuten, um den Mayor in seiner Stadt willkommen zu heißen. Alle Kirchen der Stadt und außerhalb, die nach dem großen Brand wieder aufgebaut worden waren, hatten klangvolle Glockengeläute. Eines nach dem anderen erhob in Wrens prachtvollen Kirchtürmen, die sich über die Dächer der Stadt erhoben, seine Stimme. In Cheapside und Aldgate, East Cheap und Tower Hill, Holborn, Fleet Street und Strand. Viele erkannte man an ihrem ganz eigenen Klang, und während O Be Joyful so neben den Kindern stand, bestimmte er sie nacheinander.
    »Das ist St. Mary-le-Bow«, erklärte er. »Die Old Bow Bells, die Seele Londons.«
    Immer mehr Glocken stimmten ein – einzelne Glocken und ganze Geläute erschollen metallisch und männlich wie nur die Glocken in England. Denn anders als in anderen Ländern sieht die Glöcknerkunst in England ihren Ruhm nicht darin, möglichst melodiös zu sein, sondern in der strikten Abfolge der Wechsel, durch die man die Glocken führt, streng geordnet wie die Mathematik der Himmelskörper. Lauter und lauter erschollen nun ihre dröhnenden Stimmen, bis selbst die Kuppel von St. Paul's mitzuschwingen schien. Während Carpenter so dem gewaltigen Klang um ihn herum lauschte, glaubte er tausend andere Stimmen darin zu hören: die puritanische Stimme Bunyans und seines Pilgers, die Stimme seines Vaters Gideon und seiner »Heiligen«, die Stimme Marthas – und sogar die des protestantischen Gottes selbst. Einen Augenblick lang vergaß er alles, sogar seine eigene arme Seele, umarmte seine Enkel und rief jubilierend: »Hört! O hört die Stimme des Herrn!«

GIN LANE
1750
    HANOVER SQUARE, HAUSNUMMER SIEBZEHN. Ein Nachmittag Ende April, Frühling liegt in der Luft. In dem schönen vierstöckigen Haus schickt sich Lady St. James gerade an, ihr Bad zu nehmen. Zwei livrierte Diener haben das metallene Hüftbad gebracht und es in Myladys Zimmer gestellt. Daraufhin sind sie noch dreimal mit riesigen Eimern voll heißem Wasser erschienen. Die Zofe Ihrer Ladyschaft prüft mit dem Finger die Wassertemperatur.
    Nun erhebt sich Mylady aus dem großen Bett mit dem aufgestickten Wappen; ihr Nachthemd ist ein Traum aus weißer Spitze mit blauen Schleifen. Ein zierlicher weißer Fuß berührt die Wasseroberfläche, der Spitzensaum wird ein wenig angehoben, und eine schlanke nackte Wade ist zu sehen. Die Zofe hilft Ihrer Ladyschaft, das Nachthemd auszuziehen. Und so steht sie nun schließlich nackt da – schlank, makellos, zart duftend – und gleitet in das Badewasser, das

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