London
Straßenhändler ihre Runden, und die Luft hallte wider von ihrem Geschrei: »Heiße Pasteten!« – »Kauft meine fetten Hühner!« Der Muffinverkäufer läutete mit seiner Glocke. Es war ein unglaublicher Lärm. Die Fürsten dieser Cockney-Händler waren jene, die einen eigenen bunt bemalten Karren und einen eigenen Esel besaßen, der ihn zog; zu diesen gehörte Harry Dogget. Er verkaufte Fisch, Obst und Gemüse, je nach Tag und Jahreszeit. Die größten dieser Händler waren die inoffiziellen Herrscher ihres Gebiets, sorgten für Ordnung bei den kleinen Hausierern und vererbten ihre Machtstellung von Generation zu Generation. Obwohl Dogget noch ein klein wenig unter dieser Elite stand, war mit ihm nicht zu spaßen. Ehrlich beim Geschäft, klein, aber kräftig, stets zu einem Scherz bereit, allgemein beliebt – auch bei den Frauen –, immer ein rotes Halstuch umgebunden, wäre Harry Dogget ein glücklicher Mann gewesen, wäre da nicht Mrs. Dogget. »Nicht, daß sie soviel kostet«, erklärte er, »aber sie bringt auch nichts herein.«
Alles hatte er versucht, um sie vom Gin abzubringen. Gewöhnliche Arbeiten, etwa für andere zu waschen, waren liegengeblieben. Eines Frühjahrs hatte er versucht, sie eine Woche lang nach Chelsea und Fulham zu bringen, wo Leute aus dem West Country und sogar aus Irland in den riesigen Gärtnereien Mr. Gunters arbeiteten. Doch sie hatte es geschafft, sich Gin zu besorgen, und war betrunken in ein Gewächshaus gefallen. Dann hatte ein Freund aus der BullBrauerei in Southwark vorgeschlagen, Mrs. Dogget und die Kinder sollten den Sommer über in den großen Hopfengärten von Bocton in Kent beim Hopfenzupfen helfen – doch Mrs. Dogget hatte sich geweigert.
Manchmal fragte sich Harry, ob es seine Schuld war. Hatten seine Frauengeschichten sie zum Trinken gebracht? Doch das glaubte er nicht; trotz all ihrer Fehler war sie dabei immer gelassen geblieben. Wie auch immer, es bedeutete, daß Harry nie richtig vorankommen würde, und so warnte er seine Kinder: »Ihr müßt lernen, für euch selbst zu sorgen.«
Genau das taten Sep und Sam. Sep machte sich manchmal Sorgen, weil Sam stahl. »Die Bow Street Runners werden dich erwischen«, warnte er.
Im Jahr zuvor hatte Henry Fielding, der nicht nur Werke wie Tom Jones verfaßte, sondern auch Richter war, den ersten Versuch zum Aufbau einer Londoner Polizei gemacht, deren Quartier in der Bow Street bei Covent Garden lag. Sam lachte seinen Bruder jedoch nur aus. Die beiden Jungen waren nicht identisch wie eineiige Zwillinge, einander aber sehr ähnlich, mit der gleichen weißen Haarsträhne und den feinen Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Sam war der fröhlichere der beiden. Wie die anderen Kinder hatten sie stets etwas zu tun. Der älteste Junge half dem Vater mit dem Karren; die Mädchen kümmerten sich um den Haushalt oder gingen in Stellung, die Zwillinge arbeiteten zusammen, übernahmen hier und da eine Arbeit, erledigten Botengänge – alles, womit sie ein wenig Geld verdienen konnten, das sie sorgfältig vor ihrer Mutter versteckten. Der waghalsigere Sam hatte sich nun regelrecht auf eine kriminelle Laufbahn verlegt – mit einer gerissenen Methode.
Seit achtzehn Jahren war das Theater in Covent Garden das prächtigste von ganz London. Kamen die Zuschauer nach der Vorstellung bei Dunkelheit heraus, warteten nicht nur zahlreiche Mietsänften, sondern auch Fackelträger, die den Gentlemen, die lieber zu Fuß gingen, ihre Dienste anboten. Und so mancher Herr, der beschloß, den fröhlichen kleinen Jungen, der unter den Leuten herumstand, auf dem Heimweg zu beschützen, und ein paar Minuten später bei Seven Dials ausgeraubt wurde, wäre erstaunt gewesen zu sehen, wie der anscheinend während des Überfalls so verängstigte Sam am nächsten Morgen seinen Anteil von dem Straßenräuber abholte.
»Die Runners machen sich wegen mir keine Arbeit«, versicherte er Sep. »Und beweisen können sie auch nichts.«
Bei anderen Diebstählen machte Sep jedoch gern mit – wenn sie Mrs. Dogget Geld klauten. Das war gar nicht richtig stehlen, waren sie sich einig. Sie wußten, wo das Geld hinging, wenn sie es nicht nahmen. Hätte man sie gefragt, wozu sie das Geld brauchten, hätte zumindest Sam genau antworten können. Er wollte ein Händler mit einem eigenen Karren werden wie sein Vater, und da dessen Karren sein älterer Bruder erben würde, brauchte er Geld, um sich einen zu kaufen. Bis zum Alter von fünf Jahren hatte Sep dasselbe Ziel
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