London
– es sei denn, sie wollten lieber als Hugenotten gelten. Im Westen, entlang Fleet Street und Strand nach Charing Cross, Covent Garden und Seven Dials, nickten Männer wie Harry Dogget, wenn sie an einem ruhigen Sonntagabend das Geläute der alten Glocke hörten, und meinten: »Ich bin ein echter Cockney.«
Es war auch nicht erstaunlich, daß die Londoner Cockneys für ihren pfiffigen Verstand bekannt waren. Hatten im Hafen von London nicht Angelsachsen, Wikinger, Normannen, Italiener, Flamen, Waliser und weiß Gott noch was für Völker seit Jahrhunderten dank ihrer Gerissenheit überlebt? Schlitzohrige Markthändler, lärmende Fährmänner, Wirtshausinhaber, Theaterbesucher, geprägt von der deftigen, hintergründigen und vulgären Sprache Chaucers und Shakespeares – von Geburt an tauchte das einfache Volk von London in ein Meer von Sprachwitz und Ausdrucksreichtum ein. Die schlagfertigen Cockneys liebten Wortspiele und Reimereien – »Bein und Pantoffeln« etwa bedeutete »Schwein und Kartoffeln«; »Bleib mir vom Leib!« hieß: »Hier kommt dein Weib!«.
Mrs. Dogget stolperte die Treppe herunter. Sie war rot im Gesicht, aber nicht aufgrund irgendeiner Anstrengung. Mrs. Doggets Problem war der Gin – auch »Mutters Ruin« genannt, aber es war eher der Ruin der Familie. Viele Familien in London litten darunter. Der klare Schnaps war äußerst billig in der Herstellung, und als der holländische König Wilhelm dieses Getränk, das in seiner Heimat so beliebt war, eingeführt hatte, waren die ärmeren Schichten in den Städten bald so süchtig geworden, daß es mittlerweile der größte Fluch der Zeit war. »Ein bißchen Trost«, nannte Mrs. Dogget es, wenn sie zu trinken anfing, und es schien, daß es nichts gab, was sie davon abhalten konnte.
Sie war eine kleine, rundliche Frau. Dogget sprach sie in bestimmtem Ton, aber nicht unfreundlich an.
»Schon wieder Austern?« Der Fangertrag aus der Themsemündung war so enorm, daß Austern zu den billigsten Waren auf dem Markt gehörten.
»Ich habe dir heute morgen einen Shilling gegeben«, meinte Dogget. »Du kannst das nicht alles vertrunken haben, altes Mädchen.«
»Ich habe nur Tuppence ausgegeben«, brummte Mrs. Dogget stirnrunzelnd.
»Wer hat dann das Geld?« fragte er, und alle Kinder schüttelten die Köpfe. Hätte er jedoch genauer hingesehen, wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß sich die beiden Siebenjährigen komplizenhaft zulächelten. Sam und Sep wußten es sehr gut, hatten aber nicht die Absicht, etwas zu sagen.
Seven Dials war ein seltsamer Stadtteil. Sieben Straßen, keine von Bedeutung, stießen hier aufeinander. Im Mittelpunkt der Kreuzung stand eine steinerne dorische Säule, umgeben von einem Geländer. Auf der Säule war eine Uhr mit sieben identischen Zifferblättern, die jeweils in eine der sieben kleinen Straßen zeigten. Nur wenig östlich von Covent Garden, wo nun jeden Tag ein Blumenmarkt abgehalten wurde, und nur fünf Gehminuten vom Piccadilly entfernt, hätte es eigentlich eine respektable Gegend sein müssen. Doch die sieben Straßen besaßen nicht den moralischen Charakter ihrer Nachbarn und versanken alle zusammen im Sumpf des Lasters. Wollte man den billigsten Gin finden, kam man nach Seven Dials; manche nannten die Gegend auch Gin Lane. Suchte man weibliche Gesellschaft, nicht zu unattraktiv und nicht krank, ging man zu der Uhr und traf auf dem Weg ein Dutzend Frauen, die keine richtigen Prostituierten waren, sondern Arbeiterfrauen, die sich nebenbei etwas verdienen wollten. Wollte man sich die Taschen ausrauben lassen, brauchte man nur eine der sieben Straßen entlangzugehen, und irgend jemand würde einem sicher den Gefallen tun.
Für Sam und Sep jedoch war Seven Dials ein freundlicher Ort. Sie waren hier geboren, jeder kannte sie. Selbst jene, die einen aggressiven Charakter oder gefährliche Gewohnheiten hatten, würden Sam und Sep kaum behelligen, denn ihr Vater war immerhin Harry Dogget – ein Mann von einiger Bedeutung.
Es hatte in London immer Straßenverkäufer gegeben, Männer und Frauen, die mit ihren Körben oder Karren von Haus zu Haus zogen, doch nun waren es mehr denn je, da die Bevölkerung stetig wuchs und die alten Holzbuden zunehmend in richtige Geschäfte umgewandelt wurden.
Arme Leute gingen nicht in die neuen Läden. Alles war dort teurer, und kaum ein Ladeninhaber hatte dieses zerlumpte Volk gern in seinem Geschäft, da es die bessere Kundschaft vergraulte. Daher machten die einfachen
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