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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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leisten?« fragte seine Frau ein wenig nervös.
    »Vergiß nicht«, antwortete er, und sein schmales, hohlwangiges Gesicht leuchtete bei der Aussicht, »die Gräfin St. James schuldet mir dreißig Pfund.«
    Nicht nur Londons prächtigstes Geschäft lag am Piccadilly. Um fünf Uhr nachmittags gesellte sich die von zwei Laufburschen getragene Sänfte mit der eleganten Gestalt von Lady St. James zu hundert anderen und einer Reihe wappengeschmückter Kutschen, die durch das Eingangsportal zu den Kolonnaden des Innenhofs eines stattlichen palladianischen Palais strömten, das in klassizistischer Geschlossenheit hinter der nördlichen Straßenseite lag: Burlington House.
    An den eleganten Plätzen des Westends standen sehr große Häuser, doch es gab einige Adlige, zumeist Herzöge, die so reich waren, daß sie sich eigene kleine Paläste leisten konnten. Einer davon war Lord Burlington. Obwohl die Burlingtons ihre auserlesene italienische Villa in dem westlichen Dorf Chiswick vorzogen, wurde das große Palais am Piccadilly doch hin und wieder für große Gesellschaften benutzt.
    Jedermann, der etwas darstellte, war da: Adlige, Politiker und, da die Burlingtons Kunstmäzene waren, auch ein paar Leute aus der Welt der Kunst und der Literatur: Fielding, dessen Roman Tom Jones im letzten Jahr alle Welt so belustigt hatte, war mit seinem halbblinden Bruder John gekommen; der Maler Joshua Reynolds, sogar der Schauspieler Garrick. Lady St. James bewegte sich elegant von Gruppe zu Gruppe, sprach hier und da ein paar Worte und sorgte dafür, daß sie gesehen wurde. Aber die ganze Zeit suchte sie insgeheim nur nach ihm. Er hatte gesagt, daß er hiersein würde. Er war auch da.
    Wenn Lady St. James vor dem Beginn ihrer Affäre in Captain Jack Meredith' Nähe kam, errötete sie immer wie ein Kind. Er hatte sie aus der Fassung gebracht. Wenn sie nun auf ihn zukam, war es anders. Zuerst verspürte sie Herzflattern, dann zitterte sie ein wenig, dann wurde ihr kribbelnd warm. Es begann in ihren Brüsten, die so köstlich dekolletiert waren, konzentrierte sich in der Körpermitte, schoß ihr dann in den Unterleib und durchströmte sie mit solchem Leben, daß es fast schrecklich war.
    Sein bestickter Rock war burgunderrot und paßte gut zu seinen braunen Augen. Im Augenblick stand er allein, die große, schlanke Gestalt einem der hohen Fenster zugewandt. Er spürte ihre Anwesenheit, als sie näher kam, achtete darauf, sich nicht sofort zu ihr umzudrehen, und als er sie schließlich anlächelte, bemerkte sie die attraktive, männliche Linie seiner Wange. Sie blieben ein wenig entfernt voneinander stehen und sprachen leise.
    »Du wirst kommen?«
    »Um acht. Bist du sicher, daß er nicht da sein wird?«
    »Sicher. Er ist jetzt im House of Lords, und später geht er aus zum Essen und Kartenspielen. Bis acht Uhr dann.«
    Sie nickte ihm kurz zu und schritt weiter, als habe sie kaum Notiz von ihm genommen. Aber ihr Herz vollführte einen Freudentanz.
    In »Seven Dials« gab es Austern zum Abendessen. Harry Dogget blickte auf die schnatternden Kinder, die alle wie Straßengören aussahen, was sie auch waren. Die beiden siebenjährigen Jungen, Sam und Sep, waren barfuß und rauchten lange Pfeifen, was im georgianischen London nichts Ungewöhnliches war.
    »Schon wieder Austern?« Die Kinder nickten und deuteten ein wenig nervös zur Treppe. Dogget verdrehte die Augen. Alle wußten, was das bedeutete. Wie zur Antwort ertönte aus dem oberen Zimmer nun ein gedämpftes Poltern, dann kündigten knarzende Dielenbretter die bevorstehende Ankunft Mrs. Doggets an.
    Harry Dogget seufzte. Aber es hätte noch schlimmer kommen können, dachte er. Zumindest machten sich die Kinder gut, und eines sagte er sich immer wieder: »Sie sind alle Cockneys, das ist sicher.«
    Harry Dogget war ein Cockney und stolz darauf. Man war sich nicht einig, woher das Wort kam; manche meinten, es bedeute »faules Ei«, andere meinten, es bedeute »Idiot«. Auch konnte niemand sagen, warum oder wann man begonnen hatte, die Londoner so zu bezeichnen. Nur in einem war man sich einig: Um als vollwertiges Mitglied dieser angesehenen Gesellschaft zu gelten, mußte man in Hörweite der großen Glocke von St. Mary-le-Bow geboren sein. Zugegebenermaßen trug der Wind diesen Klang über einige Entfernung. Die meisten Bewohner Southwarks am anderen Flußufer behaupteten, Cockneys zu sein, und auch die Bewohner von Spitalfields, östlich des Towers, zählten sich in der Regel zu den Cockneys

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