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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Herkunft gelitten. Wenige Männer kümmerten sich besonders darum, wo das Vermögen einer jungen Frau herkam. Selbst die reizlosen älteren Tochter hatten gute Ehemänner gefunden, und die hübsche Mary Anne hatte die Auswahl gehabt. Während einer Zeit von zwanzig Jahren war Silas nicht nur vom Müllsammler zum reichen Mann geworden, sondern die ganze Familie war aus der Gosse aufgestiegen zu Respektabilität und dem behüteten Wohlstand der Mittelschichten, was im Fall der Pennys und Bulls in noch höhere Gesellschaftsklassen führen konnte.
    Der alte Herr hatte nicht die Absicht, sich durch Lucys Notlage hinunterziehen zu lassen. Was sollte er also mit ihr anfangen? Er vermutete, wenn er ihr unter der Bedingung, daß sie seine Familie nicht behelligte und den Mund hielt, jeden Monat eine kleine Summe gab, würde sie wohl still verschwinden. Aber eines konnte er nicht dulden. »Hoffen wir, daß das Kind stirbt«, sagte er. »Aber wenn nicht, mußt du es hergeben. Wir suchen ein Waisenhaus oder etwas ähnliches.« Eine arme Verwandte zu haben war eine Sache, aber daß ein gefallenes Mädchen den nun respektablen Familiennamen Dogget beschmutzte, eine andere.
    »Aber ich wollte Hilfe, um das Kind großzuziehen«, sagte sie. »Silas, willst du kein Mitleid mit mir haben? Laß mich das Kind behalten. Es ist alles, was ich je haben werde. Es ist hart für eine Frau, niemanden zu haben, den sie lieben kann.«
    Silas betrachtete sie ungerührt. Er trat an einen Tisch, auf dem Feder und Tinte waren, und schrieb ihr einen Namen und eine Adresse auf. »Das ist mein Rechtsanwalt«, sagte er und gab ihr den Zettel. »Geh zu ihm, wenn du bereit bist, das Kind loszuwerden. Ich teile ihm mit, was er tun soll. Das ist die Hilfe, die du von mir bekommst.«
    Dann drehte er sich um und ging hinaus. Ein paar Minuten später kam der Butler wieder, gab ihr zwei Shilling für die Heimfahrt und schickte sie hinaus. Er vergaß nicht den Befehl, daß er sie unter keinen Umständen je wieder ins Haus lassen sollte.

DIE CUTTY SARK
1889
    UNTEN AUF DER BÜHNE steigerte sich der bunte Chor der Gondolieri zu einem jubelnden Crescendo. Das Publikum – Männer in Abendjacken und weißen Krawatten, Frauen mit gekräuseltem Haar und Kleidern aus Seide und Taft mit Turnüren – genoß jeden Augenblick. Nancy und ihre Mutter hatten eine Privatloge genommen. Während ihre Mutter hinten saß, beugte sich Nancy aufgeregt vor, die Hand mit dem Fächer auf die Brüstung gestützt. Seine Hand war kaum zwei Zentimeter von ihrer entfernt. Näherte sie sich? Würden sie sich berühren?
    Im spätviktorianischen London gab es drei Ebenen der Unterhaltungskultur. An der Spitze stand die Oper in Covent Garden. Für die Armen gab es das Variete, eine Mischung aus Liedern, Tanz und Tingeltangel. Dazwischen hatte sich im letzten Jahrzehnt eine neue Art von Schauspiel entwickelt. Die Operetten Gilberts und Sullivans waren voller leichter Melodien und bezaubernder Lustspielszenen; Sullivans Musik war oft der Oper ebenbürtig, und Gilberts Verse fanden an Brillanz und Satire nicht ihresgleichen. Die Piraten von Penzance oder Mikado – jedes Jahr hatte eine neue Produktion London begeistert und sollte bald auch New York im Sturm erobern. 1889 war das Jahr der Gondolieri.
    Man konnte nicht sagen, daß an Miss Nancy Dogget aus Boston, Massachusetts, etwas besonders Bemerkenswertes gewesen wäre. Sie hatte natürlich einen schönen Teint. Ihr goldblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und auf eine Weise nach hinten frisiert, die für eine Einundzwanzigjährige vielleicht ein wenig kindlich war. Außergewöhnlich waren nur ihre porzellanblauen Augen. Der Begleiter jedoch, der an diesem Abend so aufmerksam an ihrer Seite saß, schien alles zu sein, was man sich nur wünschen konnte: charmant, gebildet, mit einem prächtigen Haus und einem schönen alten Besitz in Kent. Mit seinen dreißig Jahren war er alt genug, um ein Mann von Welt zu sein, aber immer noch jung genug, daß die Mädchen zu Hause sie um ihn beneidet hätten. Und außerdem, wie ihre Mutter verkündet hatte, als sie ihn das erste Mal sah: »Meine Liebe, er ist ein Earl!«
    Nicht daß eine vornehme Abstammung für ein Mädchen aus Boston etwas Neues gewesen wäre. Die alten Bostoner Familien – Cabots, Hubbards, Gorhams, Lorings – wußten genau, wen ihre Vorfahren geheiratet hatten. Die Doggets waren wie die meisten alteingesessen. Sie waren zusammen mit Harvard herübergekommen, und es ging sogar das

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