Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
sein großzügiges Angebot – konnte mit beim Aussortieren helfen. Die anderen, die nur Gelegenheitsarbeiter waren, bekamen nur einen Pence pro Tag, aber ihr würde Silas wöchentlich dreißig Shilling zahlen. Doch als Lucy den schmutzigen Haufen betrachtete, verließ sie der Mut. Sie hatte mit Silas Leichen aus dem Fluß gezogen; Horatio hatte im Themseschlamm nach Münzen gewühlt; die Erinnerungen waren zu schmerzlich. Sie lehnte ab.
    Silas fuhr sie nach Hause. »Du wirst nie ein besseres Angebot bekommen.«
    »Es tut mir leid.«
    »Starrsinnig wie dein Vater. Dann kannst du zur Hölle fahren.«
    Bald danach war sie umgezogen. Ihre Mutter war gestorben. Lucy fand Arbeit bei einem Knopfhersteller in Soho und nahm eine Unterkunft bei einer Familie im Kirchspiel St. Giles, um näher bei ihrer Arbeitsstelle zu sein. Dort blieb sie zehn Jahre lang. Es stellte sich heraus, daß sie Talent zum Farbmischen hatte. Man konnte ihr irgendein Materialstück zeigen, und sie konnte die Farbstoffe so mischen, daß genau der gleiche Ton herauskam. Doch die großen Farbbottiche hatten einen scharfen Geruch und machten ihr das Atmen schwer. Aus Angst, sie könne Asthma bekommen wie ihre Mutter, gab sie es auf.
    Etwa um diese Zeit lernte sie ihren Freund kennen. Er war der Cousin einer irischen Familie in St. Giles, die sie kannte, lebte aber selbst in Whitechapel. Er besorgte ihr Arbeit auf einem Boot, das Freunden von ihm gehörte. Seinetwegen zog sie wieder um, und er gab ihr in diesen Jahren Freundschaft und sogar Zuneigung. Er konnte lesen und schreiben und hatte Arbeit als Angestellter bei einer großen Werft in der Nähe. Allmählich wurde aus der Freundschaft mehr, bis schließlich, als sie einmal allein waren, das Unvermeidliche geschah. Und dann noch öfter.
    »Es tut mir leid, daß ich komme, wenn du beschäftigt bist«, meinte Lucy. »Es hört sich an, als hättest du Besuch.«
    »Besuch?« Er zuckte die Achseln. »Nur ein paar Freunde.«
    Lucy wußte nicht, daß er eine Familie hatte. Sogar vor zwanzig Jahren, als er bereits Vater von vier Töchtern war, hatte Silas es nie für nötig gehalten, diese Tatsache zu erwähnen. Er hatte darauf geachtet, daß Lucy nie irgendwelche anderen Verwandten gefunden hatte, die sein Geheimnis hätten verraten können.
    »Und dieses Haus«, Lucy deutete um sich, »das gehört alles dir? Du mußt reich sein.«
    »Manche Leute glauben das. Ich habe mein Auskommen.« Das war natürlich eine Lüge. Als Lucys Mutter starb, hatte er den Müllhaufen in Bermondsey bereits durchgekämmt, dann legte er drei weitere in Westlondon an. Bald darauf stellte er fest, daß er noch mehr verdienen konnte, wenn er Abfallberge zusammentrug und sie dann zur Verwertung an andere verkaufte. Die riesigsten Haufen hatte er für Zehntausende Pfund verkauft. Als Silas sich schließlich zurückzog, hatte er zehn Müllberge zu Geld gemacht und war in der Tat ein sehr reicher Mann.
    »Warum bist du hier?« fragte er.
    Sie erklärte ganz offen, daß sie ein Kind bekam. Warum hatte sie es dazu kommen lassen? Es hatte zuvor zwei Männer gegeben, die sie heiraten wollten, aber sie hatte verzichtet, weil beide arme Arbeiter waren. Ein einziger Unfall, und sie waren womöglich verkrüppelt und starben, so wie ihr Vater. Und was dann? Bittere Not, dieselbe Art von Leben für ihre Kinder, die sie und Horatio gekannt hatten. Das wollte sie nicht. Warum hatte sie es dann mit ihrem Freund dazu kommen lassen? Vielleicht, weil sie ihn liebte. Vielleicht, weil er ein Angestellter mit ein wenig Bildung war. Vielleicht, weil sie jetzt über dreißig war. Und vielleicht auch, weil er ihr Zuneigung entgegenbrachte. Aber er war verheiratet.
    Silas verzog angewidert das Gesicht. »Du warst immer eine Närrin. Was willst du also?«
    »Hilfe«, sagte sie einfach und wartete.
    Silas Dogget überlegte. Es war zehn Jahre her, daß er nach Blackheath gezogen war; zuvor hatte er ein ganz passables Haus in Lambeth gehabt. Für die meisten Leute war er ein reicher und respektabler alter Mann. Manche wußten, daß er sein Vermögen mit Abfallhaufen gemacht hatte, aber nicht viele. Von seinen Töchtern konnte sich nur Charlotte an die schmutzige Wohnung in Southwark erinnern und daran, wie er stinkend vom Boot heimgekommen war. Die mittleren Mädchen hatten ab dem Alter von zehn Jahren eine kleine Privatschule für junge Ladys besucht; Mary Anne war von einer Gouvernante unterrichtet worden. Keines der Mädchen hatte unter ihrer niedrigen

Weitere Kostenlose Bücher