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London

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Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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dachte sie, als es ihr jemals möglich sein würde.
    Doch dann bemerkte sie, daß Edward sie aufmerksam beobachtete. Manche Dinge verstand er sehr gut; eines davon war die Brauerei. Er verstand, daß sein Bier tadellos sein mußte. Er verstand es auch, ein guter Sportler zu sein, denn das war in diesem sportlichen Zeitalter gut fürs Geschäft. Er verstand etwas von Effizienz und Buchhaltung. Er verstand auch, daß seine Frau und der junge Meredith einander zuviel Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Im Grunde machte es nichts aus, er wußte, daß Mary Anne Meredith nicht wiedersehen würde. Doch es ärgerte ihn trotzdem. Er hatte Lust, diesen lästigen Jungen in seine Schranken zu weisen.
    Bald hatte er Gelegenheit dazu. Die Pennys, die immer noch begeistert über die Weltausstellung sprachen, hatten sich gerade über die großartigen Abteilungen Frankreichs und Deutschlands geäußert, als Silversleeves bemerkte: »Die Franzosen sind, da sie stärker südländisch und keltisch geprägt sind, wundervoll kunstbegabt, aber die Maschinen in der deutschen Abteilung – das ist das wirklich Beeindruckende. Die Deutschen sind wie wir praktische Leute – die Römer der modernen Zeit.« Er sah den Tisch hinunter. »Es sind praktische Leute, die Reiche errichten, Mr. Meredith. Sie sollten besser die Deutschen studieren als die Götter der Hindus.«
    Diese Sichtweise war in den letzten Jahren in England sehr populär geworden. Schließlich seien die Angelsachsen eine germanische Rasse, sagte man; auch der Protestantismus habe in Deutschland begonnen. Die königliche Familie war deutscher Herkunft, der Gatte der Königin war deutsch. Fleißig, selbstbewußt, ein nordgermanisches Volk, so wollten die Viktorianer sich selbst sehen. Die Tatsache, daß sie im selben Maße keltisch, dänisch, flämisch und französisch waren, hatte man irgendwie vergessen.
    »Und dennoch gibt es einen Unterschied zwischen unserem Empire und dem römischen Imperium«, betonte Edward. »Und das sollte Mr. Meredith vielleicht auch berücksichtigen. Unser Empire ist nicht durch Eroberung entstanden. Die Römer haben Armeen gebraucht, wir nicht. Wir bieten diesen rückständigen Ländern ganz einfach die Vorteile des freien Handels. Der freie Handel bringt ihnen Wohlstand und Zivilisation.«
    »Aber Edward«, wandte Mary Anne ein, »Wir haben in Indien eine riesige Armee.«
    »Nein«, widersprach er.
    »Tatsächlich hat Ihr Gatte ganz recht, Mrs. Bull«, schaltete sich Meredith höflich ein. »Die große Mehrheit der Truppen sind indische Regimenter, die vor Ort aufgestellt und von den Indern bezahlt werden.«
    »Ich freue mich, daß Sie mir zustimmen«, hakte Bull wieder ein. »Und beachte bitte, Mary Anne, noch einen Satz, den Mr. Meredith gerade gesagt hat: ›Von den Indern bezahlt‹. Die britische Armee dagegen wird vom britischen Steuerzahler aus seinem hartverdienten Einkommen finanziert. Wenn Mr. Meredith Offizier wird, ist es sein Lebenszweck, unseren Handel zu schützen. Und da ich für Mr. Meredith und seine Leute werde zahlen müssen, denke ich, daß die Kosten möglichst gering sein sollten.«
    Das war beleidigend, und Mary Anne errötete verlegen. Dennoch hätten wenig Leute widersprochen, wie Bull sehr wohl wußte. Gewiß gab es auch ein paar, die eine weitgespanntere Auffassung von Englands Rolle hatten. Bei einem Dinner in der City hatte Edward vor kurzem neben Disraeli gesessen, einem lästigen Politiker, dachte er, der den Kopf voll alberner Träume von imperialer Größe hatte. Aber Disraeli bildete eine Ausnahme. Die meisten Mitglieder des Parlaments waren weit eher geneigt, solide Whigs wie Gladstone zu unterstützen, der für freien Handel, eine stabile Währung, minimale Regierungsausgaben und niedrige Steuern eintrat. Selbst ein reicher Mann wie Bull bezahlte nur drei Prozent Einkommensteuer. Und das hielt er für mehr als genug.
    »Ich habe nicht die Absicht, die Steuern zu erhöhen«, erwiderte Meredith ruhig.
    »Aber bestimmt ist die Religion der Völker in unserem Empire doch wichtig?« meinte Esther. »Wir schicken Missionare…«
    »Gewiß, Esther«, antwortete Bull. »Aber in der Praxis folgt die Religion dem Handel.«
    Es war zuviel. Zuerst beleidigte Edward Meredith, und nun war er selbstgefällig. Mary Anne wurde langsam wütend auf alle. Sie waren so ignorant und dabei so von sich überzeugt. »Aber was ist, Edward«, fragte sie mit gespielter Unschuld, »wenn die Hindus und die anderen Völker des Empires unsere

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