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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Religion gar nicht haben wollen? Vielleicht ziehen sie es vor, ihre eigenen Götter zu behalten.« Das war natürlich unerhört, aber sie wollte es so. Esther sah schockiert drein. Aber wenn sie Edward hatte ärgern wollen, schien ihr das nicht gelungen zu sein. Nachsichtig korrigierte er sie wie ein Schulkind. »Es ist eine Frage der Zeit. Wenn die weniger zivilisierten Völker der Welt zunehmend in Kontakt mit uns kommen, werden sie sehen, daß unsere Lebensweise besser ist. Sie werden unsere Religion ganz einfach deshalb akzeptieren, weil sie richtig ist. Das moralische und religiöse Gesetz. Habe ich recht, alter Herr?«
    »Absolut«, erwiderte dieser. »Moral, Mr. Meredith. Das ist der Schlüssel.«
    Nun erschien der Butler mit Madeira- und Portweinkaraffen. Das war das Signal für die Ladys, sich in den Salon zurückzuziehen, während die Männer allein ihren Portwein tranken. Mary Anne erhob sich als Zeichen für die anderen Frauen, und manche der Gentlemen begleiteten sie höflich zur Tür. Dort lächelte Mary Anne Meredith an und gab ihm die Hand, als wolle sie sich verabschieden – eine Geste ohne besondere Bedeutung, bis auf ein winziges Detail, das ihn erröten ließ.
    Als sie in den Salon trat, nahm ihre Schwester Charlotte sie am Arm und flüsterte: »Du hast seine Hand gedrückt! Wie konntest du nur?«
    »Das hast du gar nicht sehen können.«
    »Ich konnte es erkennen.«
    »Dann mußt du eine Expertin sein. Wessen Hand hast du gedrückt?«
    Charlotte hütete sich, mit Mary Anne zu streiten, sondern begnügte sich damit zu murmeln: »Nun, du wirst ihn nie wiedersehen.«
    Das Haus des alten Herrn war sehr groß. Etwas zurückgesetzt, über einer runden Auffahrt starrte das gute Dutzend Fenster mit gleichgültiger Zurückhaltung auf Blackheath, wie um deutlich mitzuteilen, daß das quadratische Ziegelhaus, zu dem sie gehörten, nur der Besitz eines sehr reichen Mannes sein könne.
    Unsicher ging Lucy zur Tür und läutete nervös. Ein Butler öffnete die Tür. Stotternd fragte sie, ob sie beim richtigen Haus sei, sagte ihren Namen und fragte, ob der alte Herr sie empfangen würde. Der Butler war ein wenig unsicher, was er tun sollte. Kannte der alte Herr sie? Sie glaubte es. Er entschied, daß er sie auf dieser Basis nicht einlassen konnte, sagte ihr, sie solle draußen warten, während er sich erkundigte. Ein paar Minuten später kam er zurück und führte sie in die Halle, vorbei an geschlossenen Türen und die Treppe hinunter in ein kleines Zimmer im Souterrain. Dort ließ er sie höflich allein und schloß weniger höflich die Tür hinter sich zu. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis sie endlich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte und die Tür aufging. Sie stand dem alten Herrn gegenüber. Lucy bemerkte, daß er sie nicht erkannte. »Hallo, Silas«, sagte sie.
    Es fiel schwer zu glauben, daß dieser rotbackige alte Mann mit dem ordentlich gestutzten Bart und dem maßgeschneiderten Gehrock wirklich Silas war. Die Verwandlung war erstaunlich.
    »Ich dachte, du seist vielleicht gestorben«, sagte er langsam. »Ich habe einmal nach dir gesucht, konnte dich aber nicht finden.«
    »Ich habe auch nach dir gesucht und dich ebenfalls nicht gefunden«, erwiderte sie.
    Aber das war schon sehr lange her. Sie hatte Silas nach dem Tag, an dem er das Boot verkauft hatte, nur noch einmal gesehen. Ein Jahr später war er in ihre Wohnung gestapft und hatte barsch gesagt: »Komm heute mit mir, Lucy. Ich hab was für dich.« Widerstrebend hatte sie ihn zu seinem übelriechenden Karren begleitet. Sie fuhren hinunter nach Southwark, dann nach Bermondsey, bis sie schließlich in einen großen Hof kamen, der von einem hohen, baufälligen Holzzaun umgeben war.
    Silas Doggets Müllhaufen war bereits an die zehn Meter hoch. Schmutz, Unrat, Plunder jeder Art; der Abfall, die Überbleibsel und der Ausschuß der Metropole, aufgetürmt zu einem fauligen, stinkenden Berg. Eine Schar zerlumpter Menschen kletterte darauf herum, grub mit Schaufeln, siebte oder arbeitete mit den bloßen Händen – alle unter dem stechenden Blick eines Aufsehers. Was fanden sie? Eisenstücke, Messer, Gabeln, Kupferkessel, Pfannen, jede Menge Holz, alte Kleider, Münzen in rauhen Mengen, sogar Schmuck. Alle Gegenstände wurden sorgfältig in verschiedenen Behältern gesammelt oder zu kleineren Haufen aufgeschichtet, wo Dogget selbst ihren Wert taxierte. »Dieser Haufen wird mir ein Vermögen einbringen«, sagte er. Und Lucy – das war

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