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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Inhalt sah. »Das haben wir immer noch, Muriel«, sagte er.
    Der Familienschmuck der St. James war besonders schön. Vor allem die Halskette aus Rubinen war bemerkenswert, und es war weithin bekannt, daß die neue Gräfin St. James, wer sie auch sein mochte, sie tragen würde. Für den Earl waren die Juwelen ein Rettungsanker. Er liebte Frauen und hatte zwei lange Affären genossen, aber ihm lag auch an seiner Freiheit. Nur aus einem Gefühl der Familienpflicht dachte er an Heirat. Ohne einen Erben würde die Grafenwürde der St. James erlöschen. Andererseits – wenn seine Werbung scheiterte, würde ihm der Verkauf des Gutes Bocton und des Schmucks immer noch genug Einkommen bringen, um als Privatier gut leben zu können. »Natürlich werde ich immer für dich sorgen«, versprach er Lady Muriel.
    Der Grund, warum der Earl seine Werbung um Nancy nicht besonders eilig betrieb, befand sich einige tausend Meilen entfernt auf dem Meer und hieß Charlotte Rose. Die Wettfahrt der Segelschiffe mit dem ersten Tee aus China war vorbei, seit der Sueskanal, vor zwanzig Jahren eröffnet, den Weg in den Fernen Osten über das Mittelmeer abkürzte. Die Dampfer mit den gewaltigen Frachten, die sich ihren Weg durch das Wasser pflügten, ohne auf den Wind angewiesen zu sein, schlugen nun die Segelschiffe auf dieser Route. Aber die ruhmreichen Tage der Klipper waren noch nicht vorbei, denn sie brachten nun Wolle aus Australien. Die beste Schur wurde im Frühling in Sydney in Australien verladen – in der nördlichen Hemisphäre war Herbst – und im Eiltempo zum Londoner Wollmarkt verschifft, der im Januar stattfand. Angetrieben von den ozeanischen Sturmwinden fuhren die Klipper ostwärts über den gefährlichen antarktischen Teil des Pazifiks, um das südamerikanische Kap Horn herum, und ließen sich von den Passatwinden über den Atlantik treiben. Bei dieser Wettfahrt konnte es kein Dampfer mit ihnen aufnehmen. Ein Jahr vor seinem Tod hatte der letzte Earl ein Viertel eines neuen Klippers erworben, der noch schneller war als die Charlotte, die Charlotte Rose, wie Barnikel sie getauft hatte. Auf diesem Schiff machte der alte Kapitän jedes Jahr phantastische Wettfahrten – seine Durchschnittszeit von Australien her hatte in den letzten drei Jahren achtzig Tage betragen. Zum finanziellen Gewinn der Reise kamen die Wetten hinzu. Jeder der erstklassigen Klipper hatte seine besonderen Eigenschaften, jeder Kapitän seine Stärken und Schwächen. Man schloß hohe Wetten ab, und eine der verwegensten war die des Earl of St. James. Seine Quote war ungewöhnlich hoch – sieben zu eins. Die Summe, die er verwettet hatte, betrug ein Jahreseinkommen. Wenn er verlor, würde es keinen so großen Unterschied machen; wenn er nicht Geld heiratete, mußte er ohnehin verkaufen. Wenn er jedoch gewann, konnte er noch weitere fünf Jahre stilgerecht leben, bevor wieder eine Krise drohte. Wenn die Charlotte Rose in sechs Wochen als erstes Schiff aus Australien zurückkam, war es nicht mehr nötig, daß Lord St. James Nancy Dogget heiratete. Seine Absicht war daher – da er sie nicht verletzen wollte –, ihr Interesse wachzuhalten, ohne sich selbst zu sehr zu verpflichten. »Man hat die Charlotte Rose neu instand gesetzt. Es gibt nur ein Schiff, das sie schlagen könnte, und Barnikel ist sicher, daß er schneller sein kann«, sagte er seiner Schwester. »Wir müssen nur die Cutty Sark besiegen!«
    In der letzten Zeit fragte sich Mary Anne manchmal, ob sie und ihre Tochter Violet im selben Haus bleiben konnten. Weder ihre drei Söhne noch Violets zwei Schwestern hatten ihr solchen Arger gemacht. »Du bist wie dein Vater«, warf sie dem Mädchen vor. »Nie gibt es einen Kompromiß mit dir. Alles ist entweder schwarz oder weiß!« Bull zufolge war das Problem jedoch, daß Violet zu sehr ihrer Mutter ähnelte. Eine Rebellin. »Aber ich war nie unvernünftig«, konterte Mary Anne dann.
    Die wahre Schwierigkeit lag in ihrer Erziehung. Wie die meisten Tochter ihrer Gesellschaftsklasse hatte sie eine Gouvernante – eine hochgebildete Frau, die ihnen sagte, daß Violet begabt war, und die sie weit über das erforderliche Niveau gefördert hatte. Bull hatte die Gouvernante in diesem Herbst entlassen, da es sicherlich ihre Schuld war, daß Violet sich die närrische Idee in den Kopf gesetzt hatte, auf die Universität zu gehen. Das war grotesk. Noch vor vierzig Jahren hatte es diese Möglichkeit überhaupt noch nicht gegeben. Obwohl es in Oxford und Cambridge

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