Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
kleine Colleges für Frauen gab, wurden diese doch nur von einer Handvoll Schülerinnen besucht, und sie wurden auch noch nicht als vollwertige Mitglieder der Universität anerkannt. »Dein Vater würde es nie zulassen, daß du ohne Beaufsichtigung irgendwo lebst«, sagte ihre Mutter. Aber Violet wandte sofort ein, daß sie ja zu Hause bleiben und in London zur Universität gehen könne.
    Sie hatte recht. Die Londoner Universität war kurz vor Königin Viktorias Thronbesteigung gegründet worden, um religiösen Nonkonformisten, denen der Zugang zu Oxford und Cambridge immer noch verwehrt war, das Studium zu ermöglichen – und somit eine fortschrittliche Sache. Die Institutsgebäude waren verstreut, es war nicht erforderlich, daß die Studenten im College wohnten, und bereits seit mehreren Jahrzehnten waren dort Frauen zu akademischen Graden zugelassen. Aber welche Frauen sollten so etwas anstreben? Mary Annes ältester Sohn Richard war in Oxford gewesen. Er war als Gentleman dorthin gegangen und hatte ihr stolz erzählt, daß er während der ganzen Zeit nie ein Buch gelesen hatte. Als sie ihn nach den Studentinnen gefragt hatte, war seine Antwort: »Blaustrümpfe, Mutter. Wir sind ihnen aus dem Weg gegangen.« Und was sollte Violet mit dem ganzen Wissen anfangen? Lehrerin oder Gouvernante werden? Das war nicht im Sinne der Bulls.
    »Du bist nicht unattraktiv«, sagte Mary Anne zu ihrer Tochter. »Du wirst einen Ehemann finden. Männer mögen es nicht, wenn eine Frau zu intelligent ist, und wenn du es bist, mußt du lernen, es zu verbergen.«
    Violet, die nicht wie die anderen Kinder der Bulls blond und blauäugig, sondern dunkelhaarig mit einer weißen Strähne war, hatte sofort gekontert. »Ich will keinen Mann heiraten, der Angst vor intelligenten Frauen hat!«
    Es bestand nicht die geringste Möglichkeit, daß Edward Bull nachgab, noch war es denkbar, daß Violet klein beigab. Die Atmosphäre im Haus war wie ein ständiges Gewitter. »Ich weiß, daß du das nicht verstehst«, erklärte Violet ihrer Mutter verächtlich. »Du bist vollkommen glücklich damit, alles zu tun, was Papa sagt. Hast du in deinem Leben nie etwas anderes gewollt?«
    Und wenn, dachte ihre Mutter, woher willst du das wissen? Ihre dreißig Ehejahre mit Edward waren nicht so übel gewesen. Er konnte halsstarrig und herrisch sein, aber das waren die meisten Männer. Wenn sie sich manchmal mehr gewünscht hätte – daß wenigstens einer seiner Freunde einmal ein Buch gelesen oder Sinn für Humor gehabt hätte –, so hatte sie das für sich behalten. Wenn es Augenblicke gegeben hatte, in denen sie vor Langeweile und Frustration hätte schreien mögen, so waren sie vorbeigegangen. Der Lohn der Ehe – das sorgenfreie Leben, die Kinder – hatte das wahrhaft wettgemacht. Und wenn ich das durchgestanden habe, dachte Mary Anne grimmig, dann kann sie das auch. »Das Leben ist nicht so, wie es deiner Meinung nach sein soll«, sagte sie dem Mädchen unverblümt. »Und je eher du das merkst, desto besser.«
    Wenigstens gab es ein Stück neutrales Territorium, auf dem diese Feindseligkeiten endeten. Jeden Mittwochnachmittag fahren Mary Anne und Violet mit der Bahn nach London und nahmen eine Droschke zum Piccadilly. Diese breite Straße hatte ihr vornehmes Flair behalten. Neue Herrenhäuser nahmen nun den Platz der alten Paläste ein, doch Burlington House – nun die Royal Academy – lag in seiner alten Pracht hinter dem ummauerten Hof. Fortnum and Mason war immer noch hier. Und ein paar Türen weiter die Straße hinunter war das Allerheiligste, wo selbst Violet ihre Streitsucht vergaß.
    An einem kalten Dezembernachmittag begaben sich Mary Anne und Violet auf ihren gewohnten Ausflug zur besten Buchhandlung im viktorianischen London, Hatchards am Piccadilly. Es war mehr als eine Buchhandlung – fast ein Club. Draußen standen Bänke, wo Dienstboten sich niederlassen konnten, während die Herrschaften drinnen herumstöberten. Im hinteren Teil war ein gemütlicher Salon, wo Stammkunden plaudern und vor dem Kamin die Zeitung lesen konnten. Angehörige des Königshauses kamen zu Hatchards, der Herzog von Wellington hatte es geliebt; die politischen Rivalen Gladstone und Disraeli wurden beide hier gesehen. Mary Anne hatte hier einmal sogar Oscar Wilde getroffen, der seine Bühnenstücke zur Beurteilung zu Hatchards sandte.
    Für Mary Anne und ihre Tochter war Hatchards ein Ort der Entspannung. Mary Annes kostbarste Besitztümer waren die Ausgaben von

Weitere Kostenlose Bücher