London
Dickens und Thackeray, die sie hier gekauft hatte. Ein freundlicher Verkäufer hatte sie ermutigt, auch Tennysons Gedichte zu lesen. Violet kaufte philosophische Werke, von Plato bis zu so modernen britischen Denkern wie Ruskin, die Mary Anne zwischen ihren Büchern versteckte, damit Edward sie nicht sah.
Heute jedoch suchten sie nach Weihnachtsgeschenken, und Mary Anne hatte gerade für ihren ältesten Sohn ein Buch über die Jagd gefunden, als sie bemerkte, daß ein hochgewachsener Mann auf der anderen Seite des Tisches sie beobachtete. Als sie aufsah, wurde er gerade von einem Verkäufer angesprochen. »Ich habe das Buch, das Sie wollten, Colonel Meredith.«
Wie konnte ein Mann, der so alt war wie sie, so unglaublich attraktiv aussehen? Sein kurzgeschnittenes Haar war immer noch kastanienbraun, die grauen Schläfen ließen ihn nur besser aussehen. Die Falten um seine Augen sprachen von einem Mann, der viel von der Welt gesehen hatte. Sein Körper war schlank und straff. Mit seinem langen, seidigen Schnurrbart war er jeder Zoll ein vornehmer Colonel, doch hatte er auch eine Sanftheit und Intelligenz an sich, die darauf hindeuteten, daß er mehr war als ein Soldat.
»Mrs. Bull?« fragte er, als er zu ihr trat. Mary Anne versuchte zu nicken, doch zu ihrem Schrecken errötete sie nur. »Ich vermute, Sie erinnern sich nicht mehr an mich.«
»Aber ja doch!« Sie fand ihre Stimme wieder und bemerkte, daß Violet zu ihnen kam. »Sie wollten nach Indien gehen und Tiger schießen.«
»Sie sind ganz unverändert.« Er schien es wirklich zu meinen.
»Ich? Oh! Kaum. Meine Tochter Violet. Colonel Meredith.«
Colonel Meredith war erst seit ein paar Monaten wieder in England. Dreißig Jahre Reisen hatten ihn in viele Länder gebracht. Das Personal bei Hatchards kannte ihn, weil in Kürze ein Buch von ihm erscheinen sollte: Liebesgedichte, übersetzt aus dem Persischen. Er hatte ein Haus in West-London, das groß genug für seine Sammlungen war. Er hatte nie geheiratet. Aber vielleicht hätte sie Lust, nächsten Mittwoch zum Tee zu kommen?
»O ja!« antwortete sie zu ihrem eigenen und ihrer Tochter Erstaunen.
Als es üblich wurde, das Dinner immer später einzunehmen, hatten die viktorianischen Engländer den orientalischen Brauch des Nachmittagstees angenommen. Er war eine einfache Mahlzeit, gewährleistete, daß der Besuch nicht zu lange wurde, und konnte ganz schicklich sowohl von Ladys als auch von Junggesellen angeboten werden.
Am nächsten Mittwoch kurz nach vier Uhr kamen Mary Anne und Violet zu Colonel Meredith' Haus am Holland Park. Es stand in der Melbury Road in einem Garten mit gestutzten Bäumen und sah mit seinem Turmchen und den Bleiglasfenstern wie ein Miniaturschloß aus. Vor allem staunten die Besucherinnen, als nicht der übliche Butler, sondern ein Sikh mit Turban die Tür öffnete und sie in die Bibliothek des Colonels führte. An den Wänden hingen konventionelle Porträts seiner Vorfahren; vor dem Kamin standen ein lederüberzogener Hocker und zwei Armsessel. Doch hier endete die englische Tradition. Über dem Feuer hingen zwei Elfenbeinzähne, auf dem Tisch standen Elfenbeinschatullen, chinesische Lackschachteln und ein hölzerner Buddha. Ein Elefantenfuß, der neben einem Schreibtisch stand, war zu einem Papierkorb umgearbeitet worden. In einer Ecke war ein Halter mit indischen Dolchen und ein silberner Elefantengott, das Geschenk eines Maharadschas; in einer anderen hingen einige schöne persische Miniaturen. Neben dem Kamin stand ein Paar orientalischer Pantoffeln mit nach oben gerollten Spitzen, die Meredith trug, wenn er allein war. Und auf der Mitte des türkischen Teppichs lag ein prächtiges Tigerfell.
Der Tee wurde sofort serviert, indischer und chinesischer, und der Colonel bestand darauf, sie selbst zu bedienen. Er schien sehr gut gelaunt, und es dauerte nicht lange, bis er auf Mary Annes Fragen hin einiges aus seinem faszinierenden Leben erzählte. Das britische Empire hatte zwar als reines Handelsimperium floriert, doch in den letzten Jahrzehnten hatte sich das Gewicht auf subtile Art verschoben. Die Kaufmannsinsel Großbritannien, die erkannte, daß sie Indien, wo es nach 1850 einen Aufstand gegeben hatte, kontrollieren und die Durchfahrt durch den ägyptischen Sueskanal, an dem Premierminister Disraeli den größten Anteil gekauft hatte, schützen mußte, war gezwungen gewesen, eine stärker imperiale und administrative Rolle zu übernehmen. Das war gut gelungen. Die hochgebildete
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