London
sogar in die Oper von Covent Garden. Die Bulls waren nun so reich geworden, daß ihre Kinder mit jungen Ladys und Gentlemen verkehrten. Arnold Silversleeves und seine Frau waren etwas anderes. Ihr Haus stand auf dem nördlichen Hügel von Hampstead, hübsch gelegen, nicht weit vom offenen Gelände von Hampstead Heath. Viele der dortigen Häuser waren prächtig oder reizvoll, ihres nicht. Die hohen, sperrigen Giebel erinnerten ein wenig an den eckigen Mr. Silversleeves selbst. Zumindest war es groß, und dank ihres Vermögens litten sie nie an dem kleinsten Mangel.
Arnold Silversleeves war bis zum Rückzug ins Privatleben Teilhaber bei Grinder und Watson geblieben. Seine Ingenieurkunst wurde geachtet, doch schienen die Projekte, an denen er mit seiner Firma beteiligt war, nie sonderlich profitabel. Entweder wählte er sie wegen ihrer technischen Herausforderung aus, oder sein eigener Perfektionismus verringerte die Gewinnspanne. Was den sozialen Aufstieg betraf: Die Familie war respektabel und versorgt; was sollte er sich mehr wünschen? Dabei war er, wie all seine Partner zugaben, einer der besten Köpfe unter den Londoner Ingenieuren. Zweifellos aus diesem Grund war er vor kurzem von dem reichen Amerikaner verpflichtet worden, dessen Besuch in ihrem Haus kurz vor Weihnachten Esther Silversleeves in helle Aufregung versetzt hatte.
Arnold Silversleeves erlebte die Befriedigung, daß eine Reihe von Projekten zur Verbesserung der Lebensbedingungen, von denen er geträumt hatte, verwirklicht wurden. Als das Parlament Ende der fünfziger Jahre endlich beschlossen hatte, die Londoner Kanalisation von Grund auf zu erneuern, erteilte es den Auftrag nicht seiner Firma, sondern dem Ingenieur Bazalgette. Es war bezeichnend für Silversleeves, daß er diesem großen Mann sofort seine eigenen Zeichnungen des existierenden Systems anbot, anhand deren dieser seine Entwürfe überprüfte. Die daraus resultierende ThemseUfereinfassung, das Embankment, die sich nun von Westminster bis Blackfriars über die neuen Hauptrohre hinzog, bereitete Silversleeves ebensoviel Freunde, als hätte er selbst davon profitiert. Man hatte ihn als Berater zu einer weiteren technischen Großtat herangezogen, die sich nun über der Themse erhob. Die beiden riesigen Türme der Tower Bridge wurden mit Stein verkleidet und im neugotischen Stil der viktorianischen Zeit gestaltet, so daß ein harmonisches Gesamtbild mit dem Tower und den Parlamentsgebäuden weiter flußabwärts entstand. »Das Steingehäuse ist nur Verkleidung«, erzählte er seiner Frau fröhlich. »Darunter ist ein riesiges Stahlgerüst.« Für die großen Hebebäume – das massive Paar stählerner Zugbrücken, die sich öffneten, um hohe Schiffe hindurchzulassen – hatte er dem Ingenieur Barry als Berater zur Seite gestanden; und Brunei, Barrys Kompagnon, hatte ihn erneut gerufen, um die komplizierte Statik der beiden mächtigen, dreißig Meter langen, schwenkbaren Brückenbogen zu überprüfen. Am meisten begeisterte sich Silversleeves jedoch für das neue Projekt, für das ihn der Amerikaner engagiert hatte. Sein alter Traum von einer Londoner Untergrundbahn war teilweise verwirklicht worden. Ein System tiefer Durchstiche und Tunnels mit Luftabzügen für Dampfzüge war bereits gebaut worden, aber es war heiß und rußig, und ohne den Abriß oder das Untergraben großer bebauter Areale konnte man es nicht zu dem komplizierteren System erweitern, das London nun brauchte. »Aber wenn wir tief hinuntergehen, zehn bis fünfzehn Meter vielleicht, könnten wir ein ganzes sicheres Netz bauen«, erklärte er. »Der Zug würde in einer Röhre verlaufen.« Doch es war vollkommen unmöglich, einen Dampfzug durch eine tiefe Röhre fahren zu lassen. Es mußten also elektrische Bahnen sein.
Elektrizität. Für den vorausschauenden Arnold Silversleeves war sie der Vorbote des modernen Zeitalters. 1860 hatte Swan die elektrische Lampe erfunden, aber erst vor zehn Jahren war in London das erste elektrische Beleuchtungssystem auf dem neuen Themse-Embankment installiert worden. 1884 begannen die ersten elektrischen Straßenbahnen die pferdegezogenen zu ersetzen. Vor fünf Jahren perfektionierte Parsons eine Dampfturbine, die einen Dynamo antrieb, und eröffnete so das Feld für öffentliche Elektrizitätswerke. Silversleeves hatte bereits seinen eigenen Dynamo gebaut und einige elektrische Lampen im Haus installiert.
Das einzige Problem war, Männer zu finden, die kühn genug waren, die
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